Als ich vorhin ins Auto stieg, liefen gerade Nachrichten bei BBC London. Eine der Nachrichten war, dass drei behinderte Teenager 4500 Pfund von einem Kosmetiksalon erhalten, weil eine Mitarbeiterin sich geweigert hatte, sie zu bedienen. Sie würden mit ihren Behinderungen andere Kunden abschrecken. Das ist der Bericht der BBC und das ist die Pressemitteilung der Anwaltskanzlei, die die Mädchen vertreten hat. Die Geschichte ist schlimm, aber irgendwie gibt es doch noch Gerechtigkeit auf der Welt – wenn man die richtigen Gesetze hat. Und das Allerwichtigste ist die Signalwirkung – für behinderte Menschen, aber auch für die Unternehmen.
Tag Archiv für UK
Die Wissenslücken des Herrn Glos
Da lese ich gerade die Pressemitteilung des Bundeswirtschaftsministeriums und mir wird ganz anders:
„Anlässlich des gestern von der Europäischen Kommission vorgelegten fünften Richtlinienentwurf zur Antidiskriminierung erklärt der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Michael Glos: „Mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz aus dem Jahr 2006 wurden die bisherigen vier EU-Richtlinien zur Allgemeinen Gleichbehandlung umgesetzt und alle zur Diskussion stehenden Diskriminierungssachverhalte in Deutschland aufgegriffen. Der jetzt vorliegende fünfte Richtlinienentwurf geht weit über den bislang schon bestehenden Diskriminierungsschutz in Europa hinaus. Es steht zu befürchten, dass Bürgerinnen und Bürger sowie insbesondere auch die mittelständischen Unternehmen in Deutschland durch die geplanten Regelungen aus Brüssel in unvertretbarem Umfang eingeengt und belastet werden.“
So weit so gut. Diese Meinung teile ich zwar nicht, aber damit könnte ich leben. Aber dann lese ich weiter unten die Begründung.
„Die von der EU-Kommission geplante Richtlinie würde viele Bereiche des täglichen Umganges und der sozialen Kontakte der Menschen überregulieren und Freiräume unnötig einengen. Denkbar wäre zum Beispiel, dass jeder Gastwirt an der Ecke zukünftig seine Speisekarten auch in Blindenschrift und eine behindertengerechte Toilette vorhalten müsste.“
Ich hätte jetzt riesen Lust sarkastisch zu sein, aber ich glaube, dem Herrn Bundeswirtschaftsminister fehlen ein paar Fakten, die ich gerne beitrage: Zum Beispiel was eine Braillekarte so kostet. Im teuren England, erster Treffer bei Google, 10 Pfund pro DIN A4-Seite (500 Wörter). Das kann man keinem Gastwirt an der Ecke zumuten? Mit Verlaub, wenn es der deutschen Gastronomie so schlecht geht, dass sie sich das nicht mehr leisten kann, dann hat Deutschland noch ganz andere Probleme als die Braillekarten. Aber dass mit zwei Abendessen eines blinden Gastes der Preis der Braillekarte schon wieder drin ist, hat man wohl übersehen. Und vielleicht kommt der sogar in Begleitung, dann hat man sogar Gewinn gemacht.
Und zu den Toiletten sage ich nur eines: Meine Lebensqualität in England ist unter anderem deshalb so viel besser als in Deutschland, weil ich wie jeder andere Mensch auch dann zur Toilette gehen kann, wann ich möchte und muss. Ich dachte eigentlich, das sei ein Menschenrecht. Deutschland hat kein Problem den Gastwirten nach Männlein/Weiblein getrennte Toiletten aufzubrummen, selbst in der kleinsten Location, aber sobald es um behinderte Menschen geht, ist das alles ne Zumutung.
Dann zur Toilette gehen zu können, wann man möchte, ist ein Menschenrecht. Es ist mir ein Rätsel, warum das so schwer zu verstehen ist. Dass die Wirtschaft dennoch nicht stirbt trotz vieler Antidiskriminierungsrichtlinien zeigt Großbritannien wunderbar. Hier herrscht eigentlich Kapitalismus pur, aber wenn es um Diskriminierung geht, gibt es auch hier Grenzen und ich habe nicht den Eindruck, dass das Land darunter leidet, dass ich dann auf die Toilette gehen kann, wenn ich es möchte. Selbst das 250 Jahre alte Pub bei uns um die Ecke hat eine barrierefreie Toilette. Es ist mir unbegreiflich, warum sich Deutschland so schwer damit tut, wenigstens dort wo es möglich ist, was zu machen. Und letztendlich muss man auch mal sehen, dass es um die Gäste geht. Lokale, die barrierefrei sind, bekommen behinderte Gäste als Kunden. Es geht ja nicht nur um Almosen, sondern es geht auch darum, einen Kundenkreis zu bedienen. Der Bundeswirtschaftsminister müsste das aber eigentlich wissen.
Warum ich Newham mag
So, ich muss nun endlich mal wieder dieses Blog beleben. Ich brauchte mal Zeit zum Durchatmen. Ich war fast zwei Wochen in Portugal und habe dann die vierte Ausgabe von „The German Link“ fertig gestellt. Es ist einiges passiert in der Zwischenzeit: Ich habe SWR3 ein recht ausführliches Interview gegeben. Dann habe ich erfahren, dass mich das Newham College überraschenderweise zum „Female Entrepreneur of the Year“ gewählt hat. In dem Business Centre, in dem ich mein Büro habe, hatte mich jemand vorgeschlagen, ohne dass ich das wusste und nun gehe ich am Mittwoch zur Preisverleihung. Ich freue mich natürlich sehr.
Ich bin ja erst seit Ende April mit meiner Firma in Newham und fühle mich dort sehr willkommen. Newhams Bevölkerung ist mehrheitlich nicht-weißer Herkunft und ich bin sehr beeindruckt, welche Geschichten die Leute, denen ich dort begegne, zu erzählen haben. Mein Büro ist in einem Gründerzentrum und ich bin dort eine der wenigen Weißen. Ich habe dort zum Beispiel eine Frau getroffen, die bis vor 10 Jahren Analphabetin war und unterdessen ein Unternehmen zur Weiterbildung von Lehrern hat. Sie hat zudem vier Kinder groß gezogen, hat ihren Mann verloren und hatte diverse Herzinfarkte. Oder eine indische Frau, die mir erzählte, dass sie erst seit kurzem Bücher liest, weil das in ihrer Familie nicht üblich gewesen sei. Oder ein Grafikdesigner, der seit dem 14. Lebensjahr obdachlos war und dann mit 18 angefangen hat, wieder in die Schule zu gehen und sich eine Wohnung gesucht hat. Aber alle haben ihre eigenen Unternehmen oder sind gerade dabei, es zu gründen. Ich mag das Umfeld dort sehr, weil mich die Kraft und der Wille dieser Menschen sehr beeindruckt. Und jedesmal, wenn mich jemand fragt: „Was? Sie sitzen in Newham? Wieso das denn?“, erzähle ich die Geschichten der Leute, von der Power, die in diesem Stadtteil steckt, wenn man den Leuten nur ein bisschen Unterstützung und Bildungsmöglichkeiten gibt und dass in Newham die Olympischen Spiele 2012 stattfinden. Außerdem bekommt man in Newham eine Schale Obst für 1 Pfund. Wer sich also gesund ernähren will, muss unbedingt nach Newham.
Strafanzeige wegen eines Obstmessers
Jetzt lebe ich schon mehr als ein Jahr in London und lerne immer noch dazu. Heute habe ich gelernt, dass man wegen eines Obstmessers im Rucksack eine Strafanzeige bekommen kann. Und das geht so: Ich hatte in den vergangenen Tagen Besuch von Freunden aus Hamburg. Diese haben eine zweijährigen Sohn, dem sie zwischendurch mal einen Apfel klein schneiden, wenn er Hunger hat. Zu diesem Zweck hatte der Vater des Kindes ein Obstmesser im Rucksack. Und das ist strafbar in Großbritannien. Ein Verstoß gegen das Waffengesetz.
Diese Lektion lehrte uns heute ein freundlicher Polizist, der den Obstmesser besitzenden Vater am London Eye stoppte, nachdem er den Rucksack auf den Scanner gelegt hatte: „Sie haben ein Messer bei sich. Kommen Sie bitte mit.“
Nach einer Rechtsbelehrung, der Einwilligung das Messer sofort einziehen zu lassen und der Unterschrift unter das Geständnis durften wir doch noch ins London Eye. Der Polizist hat uns dann noch gesagt, dass das Verfahren wegen Nichtigkeit eingestellt werde. Schließlich würde allein am London Eye täglich zwei Müllsäcke voller Messer eingesammelt und ebenso viele Anzeigen erstattet.
Hintergrund ist übrigens der Kampf gegen „Knife crime“. Es vergeht kaum eine Woche, in der kein Jugendlicher von einem anderen erstochen wird. Aber dass der Kampf gegen die Jugendbanden dazu führt, dass man als Tourist seinem Kind unterwegs keine Äpfel mehr schälen darf, finde ich doch etwas übertrieben.
Gedenken an behinderte Holocaust-Opfer
Großbritannien begeht heute zum ersten Mal einen Tag zum Gedenken an behinderte Holocaust-Opfer. Ich würde mir wünschen, dass es diese Auseinandersetzung mit dem Thema in Deutschland auch geben würde, weil ich manchmal den Eindruck habe, dass das teilweise vergessene Opfer sind und vieles nie richtig aufgearbeitet wurde.