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Der Countdown läuft

Im Sommer 2012 finden in London die Olympischen und paralympischen Spiele statt. In der Stadt läuft der Countdown. Das Foreign Office, also das britische Außenministerium hat aus diesem Anlass gerade einen Image-Film mit Tanni Grey-Thompson produziert, der derzeit auf den Webseiten der britischen Botschaften zu sehen ist. Darin berichtet die rollstuhlfahrende Sportlerin über das Vereinigte Königreich und wie sich die Einstellung zu behinderten Menschen verändert hat – und natürlich über ihren Sport.

Anmerkung: Da der automatisch generierte Untertitel von YouTube offensichtlich kein britisches Englisch mag und völlig unverständlich ist, habe ich den Text transkribiert (unter dem Video) und das Außenministerium gebeten, ihn ins Video einzubinden.

Text des Videos:

Britain is a pretty good place to be if you are a disabled person in terms of sport where the envy of the world in terms of our support structures, our media coverage, the games that we’re going to be hosting, we’re using as a platform to show the world what we can achieve.

And actually, you know, in the outside world, away from sport, it’s still one of the best countries to be in. Racing is amazing because it’s speed, it’s fair, if you are on a road race you can be going downhill at 50mph, 2ft from the ground. And your breaks don’t really work. It’s exhaustion, it’s elation, so many different things all wrapped up together. And if you’re competing on the track that can happen in 20 seconds. It’s the most amazing thing. But the outside world is so different from that.

My family was so supportive of me during the thing I wanted to do. And they brought me up to believe if somebody had an issue with my impairment it was their problem not mine.

When I was young, literally I couldn’t go out because there weren’t accessible toilets.

Cinemas didn’t allow disabled people in on their own without adults with them. And you look back now and it’s actually quite scary: That was only 30, 35 years ago. And at the time when disability was thought about very differently, they encouraged me to explore and to leave home and to travel, believing that the world would have to change, that it wasn’t me. There was nothing wrong – me being in a wheelchair.

I never set out to try to change the world. I set out to become the best athlete I possibly could. Realisation that I can actually become Number 1 in the world I think took quite a long time to come to me because it was always looking at steps, it was about improve my world ranking, it was making about the next games. When I got older it was when I recognised I had certain strength and been able to trying encourage people to change their attitudes towards disability.

Britain has so much to be proud of in terms of its understanding disabled people. But also in terms of putting disability sport on the map, because it was in Britain that the Paralympic Games began. And sport has really led the way – underpinned by an awful lot of disabled people who’ve helped make it happen. It’s led the way in terms of showing what’s an inclusive world can look on.

The opportunity to host the Olympics and Paralympics in London was one that anybody involved in sport wanted to be part of, because it was about showing the world how good we are organising things. We’re are passionate about sport. We’re passionate about doing things properly, about building lovely venues. But it’s not just that. It’s about how we change the City of London, how we change the rest of the UK.

London – in fact any old city – is huge challenge to adapt and to modernise because there is this sort of amalgamation of different historical and architectural designs. And we have a lot of rules what you can adapt and how you can adapt it. That can be really difficult.

But there has been kind of stat changes either through acts of parliament or just people’s understanding that have made people’s lives easier.

I think if you ask people from outside Britain what we’re like as a nation there might be a thought that we’re resistant to change. But acutually as a country I think we are very dynamic, we are very forward thinking, we are very inclusive, we try to make decisions that are the best for the most number of people. And that’s actually a very exciting country to be part of because we have this huge amount of history and culture. But actually we’re all looking forward to see what we can do in the future to make life better for everybody.

Die Qual der Wahl

Am Donnerstag wird in Großbritannien gewählt. Und zum ersten (und hoffentlich letzten) Mal darf ich an einer Parlamentswahl nicht teilnehmen, obwohl ich in dem Land, in dem gewählt wird, Steuern zahlen. Naja, immerhin darf ich das Gemeindeparlament von Greenwich mitbestimmen. Meine Stimme kommt mir hier fast noch wichtiger vor als in Deutschland, weil die Wahlbeteiligung hier insbesondere bei Kommunalwahlen bedenklich schlecht ist. In unserem Wahlbezirk (Eltham South) lag die Wahlbeteiligung beim letzten Mal bei 40%.

Sehr interessant ist zu sehen, welche Rolle die Behindertenpolitik im Wahlkampf spielt. Das Magazin „Disability Now“ hat die Parteien zu ihrer Behindertenpolitik befragt. Alles in allem ist das alles sehr mau, was dort genannt wird.

Das ist ziemlich unverständlich, denn in einer Umfrage im April unter behinderten Wahlberechtigten gaben zwei Drittel der Befragten an, dass die Behindertenpolitik der Parteien ihre Wahlentscheidung maßgeblich beeinflussen würde.

Sehr interessant diesbezüglich war eine Posse, die sich letzte Woche ereignete. Der Spitzenkandidat der Konservativen, David Cameron, war in London auf einem Wahltermin. In der Näher hielt sich ein Vater mit seinem rollstuhlfahrenden Sohn auf, die eigentlich nur einen Krankenhaustermin wahrnehmen wollten. Das Wahlkampfteam von Cameron dachte sich wohl, es mache ein tolles Pressebild, wenn ihr Kandidat den behinderten Jungen trifft und fragte den Vater, ob er gemeinsam mit seinem Sohn mit Cameron sprechen wolle. Der Vater wollte, denn er hatte sich über die Politik der Konservativen zur schulischen Integration geärgert. Der Vater hatte lange darum gekämpft, seinen Sohn in eine Regelschule schicken zu können und ärgerte sich über eine Passage aus dem Wahlprogramm.

Was die konservativen Wahlkämpfer bekamen, war also kein herziges Wahlkampfbild, sondern ein Debatte auf allen Kanälen und in Zeitungen über die schulische Integration behinderter Kinder und die Politik der Torries – gemeinsam mit einem Bild, das alles andere als herzig aussieht.

Der Vater des Kindes ist zudem Chef eines recht bekannten ThinkTanks und ließ sich freudig und wortgewandt in jede Sendung schalten und trat massiv für die schulische Integration behinderter Kinder ein. So schnell kann ein Wahlprogramm ganz schön altmodisch aussehen.

Ich weiß immer noch nicht, was ich am Donnerstag wähle. Gestern rief die Labour-Partei an und fragte mich, wie wahrscheinlich es sei, dass ich am Donnerstag Labour wähle. Abwarten und Tee trinken!

Für mich wird interessant zu sehen, ob sie die Barrierefreiheit meines Wahllokals verbessert haben. Ich habe mich nach der Europawahl beim Wahlleiter der Gemeinde beschwert, weil der barrierefreie Eingang nach 18 Uhr geschlossen war und ich erst an die Scheibe im Hochpaterre klopfen musste, damit mir jemand aufmacht. Das Wahllokal hatte aber bis 22 Uhr geöffnet. Den E-Mails und den überschwänglichen Entschuldigungen nach zu urteilen, müsste es diesmal klappen.

300 Behindertenparkplätze

Heute war ich mal wieder im Lakeside Shopping Centre in Essex. Ich gehe dort sehr gerne einkaufen, denn es ist einfach alles barrierefrei und es ist einfach schön da. Das Centre liegt direkt am See, man kann bei schönem Wetter in einem der Restaurants auf dem Steg sitzen.
Heute bin ich anders auf das Gelände gefahren und kam an einem orangefarbenen Schild vorbei. Ich musste zwei Mal hinsehen. Da soll es doch wirklich 300 Behindertenparkplätze geben, die ich nicht kannte.

Schild mit Hinweis auf 300 Behindertenparkplaetze

Mir war das vorher noch nie aufgefallen, weil es auch in anderen Parkhäusern um das Einkaufszentrum herum Behindertenparkplätze gibt.

Ich folgte also der Beschilderung und fand mich tatsächlich in einem Parkhaus mit 300 Behindertenparkplätzen wieder, die am einkaufsmüden Montag nicht schlecht gefüllt waren. Sie waren unterteilt in welche für Rollstuhlfahrer (breiter) und welche mit normaler Breite. Und alle Autos vor, hinter und neben meinem hatten einen Ausweis an der Windschutzscheibe liegen.

Es gibt in Großbritannien erheblich mehr Behindertenparkplätze als in Deutschland. Ich habe mich da schnell dran gewöhnt und es erleichtert mir den Alltag sehr, weil ich problemlos den Rollstuhl ein- und ausladen kann. Aber 300 Plätze habe ich nocn nie auf einen Streich gesehen.

Ich habe allerdings auch den Eindruck, es gibt mehr Parkausweisbesitzer als in Deutschland. Die Parkplätze sind oft besetzt, aber nicht von Falschparkern sondern von Ausweisbesitzern. Das ist aber mein rein subjektiver Eindruck und das wollte ich nun bestätigt haben.

Die Zahlen für Großbritannien fand ich schnell: Es gibt 2,3 Millionen blaue Parkausweise auf der Insel. Das macht bei geschätzten 61 Millionen Einwohnern 3,8 Prozent der Bevölkerung, die einen Ausweis besitzen. Finde ich sehr realistisch, wenn man davon ausgeht, dass etwa 10 Prozent der Bevölkerung behindert ist, sind vielleicht 3,8 Prozent stark gehbehindert oder blind. Kann schon sein. Das Verkehrsministerium hat erst im Oktober 2008 eine Studie zur Nutzung der Parkausweise veröffentlicht. Demnach bin ich in fast allen Kategorien die Ausnahme, die die Regel bestätigt (jung, arbeitend, Ausländerin, Ausweis seit mehr als 10 Jahren etc.). Aber das nur nebenbei…

Dann habe ich mich auf die Suche nach deutschen Zahlen gemacht und fand sofort eine Frage des Bundestagsabgeordneten Ilja Seifert von Ende Mai dieses Jahres an die Bundesregierung. Er hat sich auch gefragt, wieviele Parkausweise es eigentlich in Deutschland gibt und die Bundesregierung antwortete wie folgt: „Der Bundesregierung liegen keine bundesweiten Statistiken über die Anzahl der europäischen Parkausweise vor.“ Na toll. Und jetzt kann ich meine Vermutung, was die Anzahl angeht, nicht einmal überprüfen.

Behinderte Moderatorin als Kinderschreck?

Im Kinderkanal der BBC moderiert seit ein paar Wochen eine Moderatorin, die nur eine Hand und einen Unterarm hat. Bei der BBC sind daraufhin Beschwerden eingegangen, der Anblick der Frau erschrecke die Kinder. Es folgte ein riesen Aufschrei der Empörung über die Leute, die sich beschwert hatten. Die Moderatorin der Sendung, Cerrie Burnell, gibt seitdem Interviews, in der sie sehr besonnen, aber durchaus medienkritisch über das Thema „Behinderte Menschen in den Medien“ spricht. Außerdem hat sie für BBC One einen Film dazu gedreht – über sich und andere behinderte Menschen in den Medien.

Nicht wert, gerettet zu werden

Wer einen Krankenwagen ruft, geht davon aus, dass die Sanitäter alles tun werden, um das Leben des Menschen zu retten. In England gibt es gerade Entsetzen darüber, dass eine Krankenwagenbesatzung bei Ankunft wohl entschieden hat, der Mann sei nicht wert, gerettet zu werden. Der Mann war behindert, sein Haus in ungepflegtem Zustand. Er hatte noch selber 999 angerufen, weil er glaubte einen Herzinfarkt zu haben. Der Mensch in der Leitzentrale unterhielt sich mit ihm bis zum Eintreffen der Sanitäter. Inzwischen war der Mann ohnmächtig geworden, aber die Telefonverbindung stand noch. Und so konnte die Zentrale mit anhören, wie die Sanitäter sich über den Zustand des Hauses unterhielten und den Mann sterben ließen anstatt ihm zu helfen. Sie sollen auch gesagt haben, man werde später angeben, der Mann sei bei Eintreffen schon tot gewesen. Da es sich um einen Anruf bei 999 handelte, ist das Gespräch aufgezeichnet worden. Nun ermittelt die Polizei.

Seit Monaten kann man keine Zeitung aufschlagen ohne irgendetwas pro aktive Sterbehilfe bei behinderten und kranken Menschen zu lesen. Radiomoderatoren verkünden, sie wollten lieber sterben als behindert zu sein. In solch einem Klima glaubt vielleicht der ein oder andere, er sei auf der richtigen Seite, wenn er einem „sowieso schon behinderten und alten Mann“ nicht mehr hilft. Liz Carr hat einen sehr guten Artikel im Guardian dazu geschrieben, wie behinderte Menschen derzeit in den Medien dargestellt werden – als Superhelden bei den Paralympics oder als lebensmüde Sterbehilfeaktivisten.

Das Beste (und Schlechteste) an London

Auf besonderen Wunsch veröffentliche ich hier mal meine Top 5, was ich an London liebe und was ich weniger mag.

Top 5 – Das Beste an London

1. Die Menschen – freundlich, hilfsbereit, aus aller Welt
2. Das kulturelle Angebot – ich könnte jeden Abend irgendwo anders hin gehen
3. Das kulinarische Angebot – vom nepalesischen Bringdienst bis zum äthiopischen Restaurant
4. Kent – ist um die Ecke und immer einen Ausflug am Wochenende wert
5. Sunday Roast – würde ich wirklich vermissen, wenn ich wieder weg müsste

Top 5 – Was an London nervt

1. Die öffentlichen Verkehrsmittel – unpünktlich, kalt, überfüllt, teilweise nicht barrierefrei
2. Die Mietpreise – und nicht nur das, Mieter haben hier relativ wenig Rechte
3. Handwerker – kommen nie, wenn man sie braucht
4. Die ständigen Probleme mit Heizungen, Wasserversorgung etc. und dazu noch zugige Fenster – ich bin eh so ne Frostbeule und sitze ständig in kalten Räumen (nicht bei mir zu Hause, aber sonst überall)
5. Die Alkoholkultur – ich finde Besoffene am Wochenende ziemlich anstrengend

Tod eines Rugbyspielers

Daniel James war 23 und ein guter Rugbyspieler bis er sich bei einem Training 2007 das Rückgrat brach. Seitdem war er querschnittgelähmt und saß im Rollstuhl. Im September hat er sich in der Schweiz das Leben genommen / nehmen lassen und hat damit eine Debatte über aktive Sterbehilfe in Großbritannien angefeuert.

Ich bin immer ziemlich fassungslos, wenn ich solche Geschichten lese, weil mir gleich so viele Fragen durch den Kopf schießen: Wie ist seine Reha verlaufen? Hatte er keine Unterstützung durch seine Mannschaft? Wieso bringen ihn seine Eltern in die Schweiz? Wieso konnte man seine Lebensqualität nicht verbessern? War er psychologisch gut betreut? Wie gut sind die Rehabilitationsmöglichkeiten in Großbritannien für frischverletzte Querschnittgelähmte? Warum bezeichnen die Eltern sein Leben als „Existenz zweiter Klasse“? Wusste die Familie nicht, welche Unterstützung man hier bekommt, wenn man eine Behinderung hat? Wusste er, dass man Rugby im Rollstuhl spielen kann? Wie kann man eine Situation nach gerade mal einem Jahr überhaupt einschätzen? All diese Fragen werden in den Medienberichten und der aufgeregten Diskussion nicht beantwortet und lassen mich ratlos zurück.

In der deutschen Botschaft

Ich hatte das Vergnügen gleich zwei Mal in dieser Woche in der Residenz des deutschen Botschafters in London zu Gast zu sein – einmal zum Hintergrundgespräch mit anderen Journalisten und einmal heute abend zu einer Ausstellungseröffnung.

Dass die deutsche Botschaft baulich eine Herausforderung ist, hatte ich ja bereits schon einmal berichtet. Aber ich kann Entwarnung geben: Ich kann zwar immer noch keinen Pass in der Passstelle beantragen, aber ich könnte Botschafterin werden, denn in die Residenz des Botschafters kommt man auch als Rollstuhlfahrerin – man muss nur wissen wie.

Manchmal denke ich, mein Leben wäre erheblich langweiliger, wenn ich zu solchen Terminen einfach mal durch den Haupteingang gehen würde. In den letzten Tagen hatte ich einen sehr netten Mailwechsel mit dem Protokoll der Botschaft. Das sind die Herrschaften, die dafür sorgen, dass solche Veranstaltungen auch wirklich so ablaufen, wie das vorgesehen ist (selbst wenn ich daran teilnehme). Man bot mir an, mich die Treppen hochtragen zu lassen oder eine Odyssee durch den Keller auf mich zu nehmen. Und wer mich kennt weiß, dass ich lieber durch irgendwelche Keller gehe als mich tragen zu lassen – vor allem, wenn es solch repräsentative Keller sind.

Gestern habe ich mich also über die Klingel gemeldet und ein sehr netter Herr kam und stellte sich als Praktikant vor. Er war damit beauftragt worden, mir den Weg durch den botschaftlichen Untergrund zu weisen. Der Weg ging über zwei Lieferantenrampen (Steigung ca. 12%), vorbei am Pausenraum der Fahrbereitschaft. Dazwischen mussten diverse Türen per Gegensprechanlage geöffnet werden. Das ganze hatte etwas vom Schließsystem von Stuttgart-Stammheim. Sehr beeindruckend! Irgendwann standen wir dann vor einem kleinen Fahrstuhl. Man hatte allerdings vergessen, dem Praktikanten den Schlüssel für den selbigen zu geben, aber der Caterer half aus. Und mit dem kleinen Fahrstuhl fuhren wir dann nach oben in die Residenz. Ein sehr beeindruckendes Gebäude mit viel Gold, Teppichen und Ölgemälden. Ich war pünktlich im Haus, alles hatte geklappt und war gut organisiert. Man hatte sogar einen Stuhl am Tisch weggenommen.

Nun war ich heute wieder in der Botschaft zu einer Ausstellungseröffnung. Die Einladung kam direkt nach der Veranstaltung gestern. Ich mailte zurück, dass ich wieder den Kellerweg nehmen würde, erhielt aber keine Antwort. Gemeinsam mit meiner Praktikantin (nicht nur die Botschaft, auch ich habe eine Praktikantin) ging ich dann wieder zur Klingel. Diesmal waren die Sicherheitsleute aber nicht vorbereitet auf mein Kommen. Jemand kam runter und sagte mir, man habe keinen Schlüssel für den Keller der Residenz, aber man kenne einen anderen Weg. Irgendwo im Hauptgebäude gebe es einen Hublift. Nachdem wir alle Stockwerke abgesucht hatten (ich kenne das Gebäude unterdessen wie meine Westentasche), haben wir tatsächlich einen Hublift zur Residenz gefunden. Und ich habe den Evakuierungsfahrstuhl des Botschafters kennen gelernt – da kann man den Botschafter in den Keller befördern, wo er dann in Sicherheit gebracht werden kann. So etwas erfährt man aber nicht, wenn man als Otto-Normaljournalist den Haupteingang benutzt. Und man erfährt auf solch einer Odyssee mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit kleine Anekdoten aus dem Innenleben solch einer Organisation.

Disability Hate Crime

In Großbritannien gibt es ein Thema in den Medien, das mir völlig unbekannt war bevor ich hier her kam: Disability Hate Crime. Damit bezeichnen die Briten einen Angriff, der durch den Hass auf behinderte Menschen motiviert ist. Es ist ein eigener Strafttatbestand, der relativ schwer bestraft wird. Nun habe ich bei BBC von einer taubblinden Frau gelesen, der Jugendliche den Blindenstock auf dem Weg nach Hause weggenommen haben, sich über sie lustig gemacht haben etc. und sie ohne Stock eine Meile nach Hause finden musste. So weit so schlimm.
Die ganze Geschichte wird aber noch viel schlimmer, denn die Polizei und ein Krankenwagen waren kurz darauf vor Ort, haben sich aber nicht bei der Frau gemeldet, sondern haben zugesehen, wie sie sich den Weg nach Hause ohne Stock ertasten musste. Sie wussten nicht, wie sie mit der Frau kommunizieren sollten und haben es einfach gelassen. Eine Frau, die sich besser auskannte, haben sie einfach weggeschickt.
Warum hat der Polizist ihr nicht einfach seinen Hut in die Hand gegeben? Dann hätte sie vielleicht gewusst, dass die Polizei jetzt da ist. Und ansonsten sollte man wissen, dass viele taubblinde Menschen das Lormalphabet zur Kommunikation benutzen. Manche haben einen Handschuh dabei, der mit den einzelnen Buchstaben beschriftet ist. Man muss dann also nur noch auf den Handschuh schauen, den die taubblinde Person dann anzieht, und Buchstabe für Buchstabe durchgehen.

Mal wieder Kontakt mit dem NHS

Eine meiner größten Bedenken vor dem Umzug nach Großbritannien war die medizinische Versorgung. Was habe ich mir nicht alles an Warnungen anhören müssen über den National Health Service (NHS). Nachdem ich ja schon vor einem Jahr das besondere Vergnügen hatte, ein NHS-Krankenhaus eine Woche lang von innen zu begutachten, hatte ich heute mal wieder Kontakt mit dem britischen Gesundheitssystem.
Mir geht es seit einer Woche nicht so richtig gut und ich kränkele vor mich hin. Nachdem nachts nun auch noch Bauchkrämpfe hinzu kamen, dachte ich, ich muss nun doch mal zu meinem Hausarzt (GP).

Nun weiß ich, dass wir hier im Greenwich Millenium Village relativ priviligiert sind: Wir haben eine super moderne Praxis – mit Labor und allem Schnickschnack. Ich habe also um 10 Uhr heute morgen dort angerufen und gesagt, ich würde gerne einen Arzt sehen. Um 12 Uhr hatte ich einen Termin und musste 5 Minuten warten. Bislang war ich immer bei einer Hausärztin, aber die war heute nicht da und so lernte ich ihren Mann kennen. Auch sehr nett und sehr bemüht, mir zu helfen.

Die Praxis ist super barrierefrei mit barrierefreier Toilette und viel Platz überall. Ich habe heute das erste Mal in meinem Leben in einer Arztpraxis eine Urinprobe abgegeben, ist mir aufgefallen. Weil die Arztpraxen in Deutschland mehrheitlich keine barrierefreie Toilette haben, musste ich immer nach Hause fahren, dort die Urinprobe abgeben und dann wieder zurück. Heute ging das ratzfatz und vor Ort. Der Arzt hat den Urin auch sofort untersucht.

Mit einem Rezept über drei Medikamente hat er mich dann nach Hause geschickt. 21 Pfund haben die mich gekostet, weil man pro Medikament 7 Pfund Eigenanteil zahlen muss, außer man ist von der Zuzahlung befreit. Dass ich eine Infektion habe, konnte der Arzt im Labor sofort sehen. 4 von 5 Werte sind nicht in Ordnung.

Viel anders wäre das in Deutschland auch nicht abgelaufen und ich habe zunehmend den Eindruck, dass der NHS weit besser ist als sein Ruf.