Tag Archiv für London

Strafanzeige wegen eines Obstmessers

Jetzt lebe ich schon mehr als ein Jahr in London und lerne immer noch dazu. Heute habe ich gelernt, dass man wegen eines Obstmessers im Rucksack eine Strafanzeige bekommen kann. Und das geht so: Ich hatte in den vergangenen Tagen Besuch von Freunden aus Hamburg. Diese haben eine zweijährigen Sohn, dem sie zwischendurch mal einen Apfel klein schneiden, wenn er Hunger hat. Zu diesem Zweck hatte der Vater des Kindes ein Obstmesser im Rucksack. Und das ist strafbar in Großbritannien. Ein Verstoß gegen das Waffengesetz.

Diese Lektion lehrte uns heute ein freundlicher Polizist, der den Obstmesser besitzenden Vater am London Eye stoppte, nachdem er den Rucksack auf den Scanner gelegt hatte: „Sie haben ein Messer bei sich. Kommen Sie bitte mit.“
Nach einer Rechtsbelehrung, der Einwilligung das Messer sofort einziehen zu lassen und der Unterschrift unter das Geständnis durften wir doch noch ins London Eye. Der Polizist hat uns dann noch gesagt, dass das Verfahren wegen Nichtigkeit eingestellt werde. Schließlich würde allein am London Eye täglich zwei Müllsäcke voller Messer eingesammelt und ebenso viele Anzeigen erstattet.

Hintergrund ist übrigens der Kampf gegen „Knife crime“. Es vergeht kaum eine Woche, in der kein Jugendlicher von einem anderen erstochen wird. Aber dass der Kampf gegen die Jugendbanden dazu führt, dass man als Tourist seinem Kind unterwegs keine Äpfel mehr schälen darf, finde ich doch etwas übertrieben.

Die Company’s Policy

Es hätte eigentlich ein guter Tag werden können. Die Sonne scheinte schien, ich hatte morgens einen Termin bei der London Development Agency, der ganz gut verlief, saß nachmittags im Café und habe an der 3. Ausgabe meiner Zeitung gearbeitet und freute mich abends auf eine Veranstaltung von Businesslink.

Ich war nachmittags von Waterloo über die Brücke nach Embankment gerollt und wollte so auch nach der Veranstaltung wieder zurück, um mit der U-Bahn nach Hause zu fahren. Waterloo ist im Gegensatz zu Embankment barrierefrei. Aber es fing im Laufe des Abends fürchterlich an zu regnen, die Straßen waren überflutet und ich überlegte, wie ich jetzt nach Hause kommen sollte. Der Weg nach Waterloo war viel zu weit, um ungeschützt im strömenden Regen über die Themsebrücke zu fahren. Wäre ich ans andere Ufer geschwommen, wäre ich genauso nass gewesen wie beim Weg über die Brücke.

In Embankment gibt es auch einen Anleger der Thames Clippers, ein Linienverkehr auf der Themse. Wir haben auch einen Anleger vor dem Haus und so entschied ich mich, mit dem Schiff nach Hause zu fahren. Das erschien mir als trockenster Weg. Das hatte ich schon x Mal gemacht – nur noch nie ab Embankment. Die Schiffe sind total barrierefrei, manche haben sogar barrierefreie Toiletten. Auch die Anleger sind zugänglich, manche haben einen total stufenlosen Einstieg, manche eine kleine Stufe ins Boot.

Ich ging auf den Anleger, es gab eine spezielle Wegführung für Rollstuhlfahrer, gut ausgeschildert. Ich hatte also nicht den Eindruck, dass keiner mit Rollstuhlfahrern rechnet oder diese nicht borden dürfen. Das Schiff kam sofort, doch die beiden Typen am Eingang machten mir klar, dass sie mich nicht mitnehmen würden. Ich war mehr als erstaunt. Sie sagten, der Anleger sei nicht barrierefrei, sie dürften mich nicht mitnehmen. Das war wirklich ein Witz, denn die Stufe in die U-Bahn ist teilweise höher als die ins Boot, was Transport for London dennoch nicht daran hindert, die Station als barrierefrei auszuzeichnen.

Hinter mir waren zwei Paare, die sich sofort einmischten und wild protestierten. Sie boten an, dass sie mir über die Stufe helfen. Das Boot lag bombenfest am Anleger, es war überhaupt nicht gefährlich. Aber die beiden Typen bestanden darauf, dass ich an Land bleibe. Ich war außer mir, erklärte ihnen, dass es regne wie verrückt, dass es keine barrierefreie U-Bahnstation in der Nähe gebe, ein Taxi bei dem Wetter ebenfalls nicht zu bekommen sei. Nichts zu machen. Sie wollten mich nicht mitnehmen. Dann mischte sich wieder ein Mann hinter mir ein und fragte, warum denn die Kinderwagen mitdürfen, die auf die gleiche Weise an Bord gehen wie ich, aber ich nicht. Schweigen auf der Bootseite. Und dann fiel einem der beiden die „Company’s Policy“ ein, die meine Mitnahme unmöglich mache. Ich fragte, ob ihm klar sei, dass er gerade gegen den Disability Discrimination Act verstoße? Die Antwort war verblüffend: Er würde mir die Mitnahme ja nicht verweigern, er würde mich ab einem anderen Anleger mitnehmen. Ich war unterdessen so sauer, dass ich ihn fragte, ob das bedeute, dass auch alle nicht behinderte Passagiere zum anderen Anleger laufen müssten, denn schließlich dürfe er mir ja einen schlechteren Service bieten wie allen anderen. Wieder Schweigen.

Und dann sagte der Kapitän, er lege jetzt ab. Die Passagiere protestierten, aber es war nix zu machen. Die ließen mich draußen stehen und ich hatte keine Ahnung, wie ich einigermaßen trocken nach Hause kommen sollte. Ich bin selten aus der Ruhe zu bringen, aber da war ich wirklich außer mir. Zumal die Situation war, wie sie war: Ich stand im strömenden Regen und kam nicht nach Hause.

Natürlich bin ich irgendwann doch nach Hause gekommen. Zusammen mit meinem Freund, der mit der U-Bahn angedüst kam, sind wir mit einem Vorstadtzug nach Hause gefahren von einem Bahnhof in der Nähe. Den hätte ich alleine aber nicht erreicht. Und jetzt bin ich gerade dabei zu recherchieren, wie ich Thames Clippers für diesen Abend mindestens so nass mache, wie sie mich gemacht haben. Aber ich bin sicher, mir wird da was einfallen.

Gedruckt, umgezogen und gewählt

Ich habe mir mal eine kleine Blogpause gegönnt, hat sich einfach so ergeben. Ich hatte einfach zu viel zu tun, bin in ein Büro gezogen, die zweite Ausgabe der Zeitung ist gedruckt, ich hatte x Termine und zu guter Letzt habe ich heute auch noch gewählt. In solchen Momenten liebe ich ja die EU – kaum in London, kann ich schon den Bürgermeister mitbestimmen.

Die Wahlen hier laufen ähnlich ab wie in Deutschland. Ein paar Unterschiede gibt es aber doch: Man muss sich in ein Wahlregister eintragen lassen, denn ein Einwohnermeldeamt gibt es hier ja nicht. Vor der Wahl bekommt man eine Wahlbenachrichtigung. Den Hauptunterschied liegt im Termin der Wahl: Der 1. Mai in Großbritannien kein Feiertag, das heißt es wird an einem Werktag gewählt, was ich ein wenig komisch finde. Da kommt gar keine feierliche Stimmung auf wie in Deutschland am Wahlsonntag, wo alle in die Grundschule um die Ecke pilgern.

Dafür haben die Wahllokale (Polling stations) hier bis 22 Uhr geöffnet. Ich bin um 21 Uhr wählen gegangen. Man hat drei Stimmzettel: Für den Bürgermeister, für die London Assembly und für die Gemeinde. Darf ich alles wählen, finde ich prima. Und in London wird sogar diskutiert, ob man neben den Commonwealth- und EU-Bürgern nicht gleich alle Ausländer wählen lassen sollte, die eine bestimmte Zeit hier leben.

Den Wahlkampf habe ich als ziemlich kurz und oberflächlich empfunden. Viele Leute, mit denen ich gesprochen habe (auch Politiker) wussten nicht einmal, dass nicht nur Briten wahlberechtigt sind. Die Programme der Parteien lesen sich teilweise wie in 10 Minuten zusammen gezimmert. Es ist eine absolute Personenwahl, bei der mehr über die Frisur und den Alkoholkonsum der Kandidaten diskutiert wird als deren Programm.

Ich glaube, dass die Ausländer in London eine enorm wichtige Rolle bei der Wahlentscheidung spielen. Irgendwo habe ich gelesen, dass wenn die Franzosen einen eigenen Bürgermeister aufstellen würden, sie gute Chancen hätten, dass er an die Macht kommt – denn die Franzosen gehen wählen (die Wahlbeteiligung ist hier ein riesen Problem) und es sind unterdessen so viele in London, dass sie eine wichtige Wählergruppe sind. Aber ich glaube, vorher würden die Briten aus der EU austreten.

An manchen Tagen

…hat man einfach nur Glück. Heute war so ein Tag. Es fing damit an, dass ich heute morgen einen Anruf bekam, dass ich das Office, um das ich mich beworben habe, bekomme. Es ist ein kleines Office zu einem ziemlich günstigen Preis in einem Gründerzentrum einer Uni. Ich habe unterdessen so viele Anfragen nach einem Praktikum, dass es schade wäre, die ganzen Leute einfach abzuwimmeln, weil ich keinen Platz habe, die Leute unterzubringen – zumal es den Praktikanten hier sicher nicht langweilig wird und ich jede Unterstützung gebrauchen kann. Also eventuell ziehe ich nächste Woche schon in das Büro. Juhu!

Nachmittags bekam ich dann einen Anruf, dass eine Gemeinde im Norden Londons gerne in allen ihren Bibliotheken meine Zeitung haben möchte – zehn Bibliotheken auf einen Streich…

Und dann bekam ich heute abend eine Mail von der London Development Agency, dass ich in ein Förderprogramm aufgenommen wurde, das Gründer unterstützt mit Kursen, Coaching etc. Londonweit wurden zehn förderungswürdige Unternehmen gesucht und mein Unternehmen ist jetzt eines davon. Ich freue mich natürlich sehr. Der Bewerbungsprozess war fast rein schriftlicher Art und ich bin nicht sehr selbstbewusst, was mein Schriftenglisch angeht, aber scheinbar ist es doch nicht so schlecht. Die Mehrzahl meiner Mitbewerber sind schließlich Muttersprachler und jetzt bin ich für ein Jahr in diesem Programm. Was das Programm alles beinhaltet, erfahre ich Ende April, aber ich freue mich jetzt schon wie verrückt.

Mitdenkende Mitmenschen

Ich nehme morgen früh an einer Veranstaltung der Londoner Entwicklungsbehörde teil. Man musste sich um die Teilnahme bewerben und bei den Bewerbungsunterlagen wurde – wie überall hier – gefragt, ob man besondere Bedürfnisse hat (Essen, Barrierefreiheit etc.). Ich habe also angegeben, dass ich Rollstuhlfahrerin bin, auch wenn ich mit Sicherheit davon ausgehen konnte, dass der Veranstaltungsort barrierefrei ist. Ich habe noch keine einzige Veranstaltung hier erlebt, die mit Steuergeldern finanziert ist, die nicht barrierefrei war. Keine einzige und ich turne hier ständig auf solchen Events rum.

Nun bekomme ich heute eine E-Mail (es ist Sonntag wohlgemerkt!) von der Behörde. Sie gingen davon aus, dass ich sicherlich alles gut organisiert hätte, um zu dem Termin zu kommen. Sie möchten mir aber dennoch anbieten, wenn es für mich einfacher sei, morgen ein Taxi zu nehmen, solle ich das gerne tun. Sie würden selbstverständlich die Kosten tragen.

Nun ist die Veranstaltung an einer barrierefreien U-Bahnstation und ich wohne ja auch an einer und komme da also problemlos hin, aber alleine dass sich am Sonntag jemand Gedanken darüber macht, wie ich am Montag zu dem Termin komme, finde ich mehr als eine nette Geste. Und dann bieten sie mir auch noch ganz unbürokratisch an, meine Kosten zu übernehmen. Was es für mitdenkende und nette Menschen gibt!

Interview

Ich führe zwar bei weitem lieber Interviews als dass ich welche gebe, aber manchmal lasse ich mich überreden.

Britischer Pragmatismus

Alle behinderten Londoner und Senioren haben einen Freedom Pass, mit dem sie kostenlos Bus und Bahn fahren können. So auch ich. Seit Monaten gibt es überall Hinweise darauf, dass der Pass für alle Ende März ausläuft und man ihn frühzeitig erneuern soll. Deutsch wie ich bin, habe ich natürlich schon Monate im Voraus versucht, jawohl versucht, die entsprechenden Formulare bei meiner Gemeinde zu bekommen. Von Januar bis Ende Februar vertröstete man mich bis ich endlich den Antrag stellen konnte – vier Wochen vor Ablauf des Passes.

Nun haben wir heute den 26. März und mein Pass ist noch fünf Tage gültig. Aber immer noch nichts von meiner Gemeinde… Also habe ich da heute mal angerufen, ich hätte den Antrag doch schon vor einem Monat gestellt, seit Januar mit ihnen gesprochen und sie sollten mal voran machen.

Da sagte der Typ an der anderen Leitung: „No panic, Määääm. Transport for London weiß, wie langsam die Gemeinden sind und hat alle Pässe um zwei Monate verlängert.“ Britischer Pragmatismus vom Feinsten…

Das Hublift-Museum aka British Musuem

Ich war heute im British Museum und habe mir unter anderem die Ausstellung „The First Emperor“ angesehen (dank Werner, der sich heldenhaft um 7.15 Uhr für Karten angestellt hat). Das British Museum ist ja ein ziemlich altes Gebäude, aber dennoch ziemlich barrierefrei. Ich habe noch nie ein Gebäude gesehen, in dem es so viele Hublifte gibt wie im British Museum. Das Gebäude hat viele Ebenen, aber überall gibt es diese Lifte. Und das Beste: Sie funktionierten alle! Und sie sahen alle wirklich nicht hässlich aus und waren gut in das Gebäude integriert. Ein sehr schönes Beispiel, wie man Denkmalschutz und Barrierefreiheit unter einen Hut bringen kann.

Learning by doing

Nachdem die erste Ausgabe meiner Zeitung verteilt ist, habe ich ein bisschen Zeit, Resumee zu ziehen. Ich habe noch nie zuvor in meinem Leben so viel gelernt wie in den letzten Monaten. Über Geschäfte machen, England, Deutschland und über mich selbst. Ich bin im Frühjahr letzten Jahres auf die Idee gekommen, diese Zeitung zu gründen. Damals war ich noch bei BBC. Es gibt in London für jede Community eine Zeitung, nur die Deutschen, Österreicher und Schweizer haben keine, dabei ist die Gruppe relativ groß (ca. 200 000 im ganzen Land) und es gibt diverse Geschäfte, die sich nicht zuletzt an deutschsprachige Kunden richten.

Wenn man im Jahr 2008 eine Zeitung gründet, ist die Anzahl der Menschen, die einen nicht für verrückt halten, relativ überschaubar. Umso wichtiger war es, selbst an das Projekt zu glauben und sich sehr darauf zu besinnen, was man wirklich will. Ich habe mir mal eine Liste mit Dingen zusammen geschrieben, die ich jedem raten würde, der sich selbstständig machen will und die mir sehr geholfen haben.

  • Glaub an Dich selbst und an Dein Produkt. Es gibt keinen wichtigeren Ratschlag.
  • Sei realistisch. Klein anfangen ist oftmals das Beste.
  • Gib alles ab, was andere besser können als Du, aber behalte die Kontrolle.
  • Man muss nicht alles können, aber man kann vieles lernen.
  • Sammele Leute um Dich herum, die Dich unterstützen. Leute, die Dir alles madig machen, helfen Dir nicht.
  • Vermeide Zeitdiebe. Man trifft sie überall, sie machen sich wichtig und am Ende kommt nichts dabei raus.
  • Man kann nicht jeden glücklich machen, auch nicht alle Kunden.
  • Hör auf Dein Bauchgefühl, inbesondere wenn Du Leute einstellst oder Verträge schließt.
  • Rede mit Deiner Zielgruppe. Früh, immer und kontinuierlich.
  • Lass Dir Ratschläge geben, aber entscheide selbst.
  • Jeder Mensch macht Fehler. Am Ende ist alles gar nicht so schlimm.
  • Hab Spaß daran, was Du tust.

Die Zeitung ist da

So, ich bin der glücklichste Mensch der Welt, denn meine Zeitung ist erschienen. Es hat alles geklappt – die Grafik, der Druck, der Inhalt, der Anzeigenverkauf und die Verteilung läuft gerade. Die Zeitungen für die Abonnenten sind schon auf den Weg gebracht.

Zeitungscover

Ich bin sehr sehr froh und erleichtert. Das Feedback ist bislang auch durchweg gut. Ich bin froh, dieses Projekt gestartet zu haben und ich bin jetzt sicher, dass es ein Erfolg wird. Jetzt wird erstmal Schlaf nachgeholt und die zweite Ausgabe wartet ja auch schon… Wenn ich ein bisschen mehr Zeit habe, berichte ich mal über meine Erfahrungen der letzten sechs Monate.

P.S.: Abonnieren kann man das gute Stück hier. Eine Liste mit Verteilstellen gibt es auch.