Barrierefreie Kaffeesatzlesereien 2014

Inspiriert durch Thomas Knüwers Glaskugelige Kaffeesatzlesereien 2014 möchte ich mal ein paar Vorhersagen machen, was das Themen Barrierefreiheit und Behinderung 2014 angeht.

  • 1. Behinderung wird cool.

  • Ich beobachte schon seit einer ganzen Weile, dass Behinderung bei weitem nicht mehr das Negativ-Label hat, das es einmal hatte. Das zeigt sich in so nervigen Aussagen wie „Ansich ist ja jeder behindert.“ Manchmal habe ich das Gefühl, Leute fangen an, sich zu rechtfertigen, nicht behindert zu sein. Das ist natürlich völliger Quatsch, aber dennoch besser als dieser schamhafte Umgang aus den 80ern. Angesichts der Tatsache, dass Individualität ja auch gerade ziemlich hip ist, passt auch die Akzeptanz von Behinderung da gut rein. Wer will schon sein wie alle anderen?

  • 2. Die Cyborgs kommen. So what?

  • Dazu passt auch das Thema Cyborgs. Früher waren Prothesen etwas für Kriegsversehrte, jetzt sollen sie für alle da sein und angeblich will sie auch jeder. Ich hab da so meine Zweifel. Behinderte Menschen wird es immer geben, auch wenn sie sich jetzt Cyborgs nennen oder ein paar Nichtbehinderte meinen, ihr Handy mache sie schon zu einem Cyborg. So what? Ja, die Medien lieben das Thema, die Relevanz für behinderte Menschen ist allerdings ziemlich gering. Jedem die Schublade, in die er gerne passen möchte – zumindest so lange es nicht dazu führt, dass die Akzeptanz von behinderten Menschen darunter leidet. Wer glaubt, alle Behinderungen müssen und können mittels Technologie ausgerottet werden, ist alles andere als fortschrittlich, sondern allenfalls naiv.

  • 3. Für manche Airline wird es teuer, behinderte Menschen zu diskriminieren. Die anderen werden daraus lernen.

  • Oh, was freue ich mich auf dieses Urteil! Der Fluggesellschaft Easyjet droht 2014 in Frankreich eine Strafzahlung von 70.000 Euro, weil sie behinderte Kunden diskriminiert haben sollen. Ich prophezeie: Easyjet verliert auch in der letzten Instanz und muss zahlen.
    Es wird ein Ruck durch die Airlineindustrie gehen, die dann endlich merkt, dass auch behinderte Menschen Kunden sind und sie sich ihre Gäste nicht aussuchen können, jedenfalls nicht danach, ob die Kunden behindert sind oder nicht.

  • 4. Der Rollstuhlfahrer-Kinderwagen-Krieg in britischen Nahverkehrsbussen wird zugunsten der Rollstuhlfahrer entschieden.

  • Und auf noch ein Urteil freue ich mich. Ein britisches Gericht wird grundsätzlich entscheiden, ob Busgesellschaften die Rollstuhlplätze in Nahverkehrsbussen für Rollstuhlfahrer vorhalten müssen oder ob Busfahrer Rollstuhlfahrer abweisen können, wenn die Plätze durch nicht behinderte Fahrgäste, zum Beispiel Kinderwagen, genutzt werden. Ich prophezeie: Es wird zugunsten von Rollstuhlfahrern entschieden. Ein Urteil der Vorinstanz gibt es dazu schon. Das wird dazu führen, dass sich die britische Busindustrie endlich mal nach besseren Linienbussen umschaut und zwei Freiflächen einrichtet – eine für Rollstuhlfahrer und eine für Kinderwagen. Bis das passiert, werden Eltern ihren Buggy falten müssen oder aussteigen, wenn ein Rollstuhlfahrer kommt.

  • 5. Das soziale Modell von Behinderung kommt langsam immer mehr in Deutschland an.

  • Die Fortschritte bei der gleichberechtigten Teilhabe behinderter Menschen in Großbritannien sind vor allem auf das vorherrschende soziale Modell von Behinderung zurückzuführen. Behinderung wird als gesellschaftliche Aufgabe verstanden, nicht mehr als persönliches Schicksal, gegen das man wenig tun kann. Ich glaube, dass daran der Schlüssel liegt, Dinge in Deutschland für behinderte Menschen zu verändern und ich glaube, das soziale Modell von Behinderung wird immer mehr ins Bewusstsein der Menschen, auch der behinderten Menschen selbst, rücken.

  • 6. Auch behinderte Menschen, die Assistenz benötigen, dürfen künftig Geld verdienen.

  • Es gab eine sehr erfolgreiche Petition, es gab einen hervorragenden Beitrag von Panorama. Ich glaube, politisch ist der Status Quo, dass behinderte Menschen, die auf Assistenz angewiesen sind, nur wenig verdienen können und nichts ansparen dürfen, nicht zu halten. Ich glaube, dass 2014 zumindest ein Gesetzentwurf auf den Weg gebracht wird, der das ändert.

  • 7. ARD und ZDF teilen mit, bis wann ihr gesamtes Programm untertitelt wird.

  • Bei einem Überschuss von 500 Millionen Euro an Rundfunkabgaben, ist es nicht zu verstehen, warum ARD und ZDF ihr Programm nicht endlich vollständig untertiteln. Mit dem Geld könnte man nicht nur untertiteln, sondern auch noch die Bildbeschreibungen für blinde Menschen massiv ausbauen. Zumindest sollten die Sender 2014 in der Lage sein mitzuteilen, bis wann sie die 100% Untertitel erreicht haben.

  • 8. Es wird mehr behinderte Menschen in ganz normalen Fernsehrollen geben.

  • Der Münsteraner Tatort macht es seit längerem vor. Der Tatort mit Nora Tschirner und Christian Ulmen hat es auch gezeigt. Die Lindenstraße kann es auch, wenn sie will: Es wird immer mehr sichtbar behinderte Menschen in ganz normalen Rollen geben. Das ist im britischen Fernsehen längst üblich und sollte auch in Deutschland bald normal werden. Der Tatort „Die fette Hoppe“ hat schon gut vorgelegt, aber da geht noch mehr.

  • 9. Sibylle Brandt wird neue Behindertenbeauftragte der Bundesregierung.

  • Keine Jahresvorschau 2014 ohne einen Tipp, wer Behindertenbeauftragte/r wird. Ich tippe auf Sibylle Brandt. In erster Linie weil Rolling Planet schon rumposaunt hat, es würde eine Frau von der SPD, aber sie dürften nicht sagen, wer. Rolling Planet sitzt in Bayern. Sibylle Brandt kommt aus Bayern und ist vom Netzwerk „Selbst Aktiv“ der SPD. Außerdem passt ihr Profil irgendwie zu dieser Regierung, finde ich.
    Sie hat einen Blindenführhund. Ich hoffe sehr, dass es dann endlich mal ein Assistenzhundegesetz in Deutschland geben wird, das zum einen die Ausbildungsqualität der Hunde absichert, aber auch das Abweisen von Assistenz- und Blindenführhunden unter Strafe stellt.

  • 10. SMS-Notruf startet in Deutschland flächendeckend.

  • Wer in Deutschland gehörlos ist und die Polizei oder Feuerwehr erreichen will, muss ein Fax schicken. Derzeit ist es nur in drei Bundesländern möglich, eine SMS im Notfall zu schicken. Die Bundesregierung hat schon x Mal zugesagt, das zu ändern, passiert ist nix. Das kann doch jetzt nicht noch einmal ein Jahr dauern, oder? Also, 2014 kommt der flächendeckende Notruf per SMS für gehörlose und sprachbehinderte Menschen.

13 Kommentare

  1. hanswurst sagt:

    Zu Punkt 7 (ARD/ZDF):
    ARD und ZDF dürfen die Mehreinnahmen nicht ausgeben. Der Betrag der ausgeben werden darf wird von der Politik bestimmt. Daher sind alle Forderungen an ARD und ZDF die Mehreinnahmen für das eine oder andere auszugeben absolut fehlgerichtet.

  2. Christiane sagt:

    Selbst wenn es die Mehreinnahmen (die unter anderem daher kommen, dass auch gehörlose Zuschauer zahlen müssen) nicht gebe, bin ich fest davon überzeugt, dass ARD und ZDF voll untertiteln könnten, wenn sie wollten. Jetzt ist das Geld aber da, also könnte man es auch dafür verwenden. Was hindert die Sender daran zu sagen, „wenn wir Summe x kriegen, können wir bis Tag y voll untertiteln“? Das würde den politischen Entscheidungsprozess sehr unterstützen.

  3. Willi Hubert sagt:

    Hallo Christiane!
    Ich hoffe, sie haben mit Ihren „Ansagen“ allesamt recht und wünsche noch ein gesundes, friedliches und behindertengerechtes Jahr 2014.
    ein lieber Gruß Willi

  4. Lauscher sagt:

    Hallo Christiane,

    na dann hoffen wir mal das beste. Was hast du denn damit gemeint, Frau Brandts Profil passt gut zu dieser Regierung? Ich bin mir nicht ganz sicher, worauf du das beziehst. Aus meiner Sicht ist das nicht wirklich ein Kompliment, erwarte ich mir von unserer großen Koalition doch nicht allzu viel, gerade was Demokratie und Bürgerbeteiligung angeht. Dass es im Bereich Beteiligung behinderter anders werden soll, wäre natürlich wünschenswert, halte ich aber für unwahrscheinlich, gerade auch nach den Kanzlerduellen, die du ja auch kommentiert hast.

  5. Christiane sagt:

    @lauscher Oh, das war nicht so negativ gemeint, wie es sich vielleicht liest. Sie hat einen wirtschaftlichen Hintergrund, ist aber sozial engagiert. Das meinte ich. Sie ist es aber nicht geworden. Es wird Verena Bentele, wie gestern die Süddeutsche berichtete.

  6. Gast sagt:

    Noch ein paar Vorhersagen für Deutschland:

    1.) Die Aussonderungsanstalten, die mit „Eingliederungshilfe“ finanziert werden (allen voran die über 5000 „Behindertenheime“ (siehe Heimbericht der Bundesregierung)), werden auch 2014 nicht abgeschafft, sondern allenfalls „umstrukturiert“ und umetikettiert. Möglicherweise nennt sich das Ganze dann nicht mehr „Eingliederung“ sondern „Teilhabe“, finanziert über „Teilhabegeld“.

    2.) Überdurchschnittliche Gewalt und sexueller Mißbrauch in diesen Einrichtungen (siehe Studie des Bundesfamilienministerium aus 2011) wird auch 2014 fortdauern. Die zwischenzeitlich eingerichtete „Hotline“ wird (sofern sie für Betroffene überhaupt zugänglich ist) an die Stellen zurück verweisen, die schon in der Vergangenheit versagt haben (Heimaufsichten, ggf. Polizei/Staatsanwaltschaften). Eine gelegentlich geforderte Heimpolizei/Sonderstaatsanwaltschaft mit speziellen Kompetenzen wird auch 2014 nicht eingerichtet.

    3. Das lt. UN-Behindertenrechtskonvention völkerrechtswidrige „Betreuungsrecht“ mit nahezu 1,5 Mio Betroffenen wird auch 2014 nicht reformiert oder abgeschafft. Allenfalls wird aufgrund der vielen Medienberichte über Mißbrauch, Entmündigung, Enteignung, zwangsweiser Heimeinweisung etc. eine „rechtstatsächliche Untersuchung“ bei bisherigen „Experten“ in Auftrag gegeben, die (ebenfalls teuer finanziert) 1-2 Jahre in Anspruch nimmt und dann in der Schublade landet.

    4. Zigtausenfache illegale Fesselungen in Heimen („Fixierung“ genannt) und zwangsweise medikamentöse „Ruhigstellung“ (siehe Berichte des MdK) wird auch 2014 nicht strafrechtlich geahndet. Es werdenn allenfalls „Handlungsempfehlungen“ auf freiwilliger Basis geschrieben und in Schubladen abgelegt.

    5. Auch 2014 ist potentiell jede/r „behindert“, denn die o.g. gravierenden Mißstände betreffen alle spätestens im Alter.

  7. Nicolas sagt:

    Wer war bei der fetten Hoppe sichtbar behindert? Ich kann mich an niemand erinnern, der mir aufgefallen wäre.

  8. […] Nebenbemerkung: Ich bin ziemlich zufrieden mit dem Stück — genauso wie ich mich auch wahnsinnig über dieses ZDF-Stück hier freue. Leider gibt es senderseitig hier wie dort keine Barrierefreiheit (hier kein Sendemanuskript, dort keine Untertitel). Ich möchte aus diesem Anlass noch mal hervorheben, wie entgegenkommend die jeweiligen Redakteurinnen waren, wenn es um die Erstellung von Untertiteln bzw. Sendemanuskript ging, sie haben versucht, vieles in Bewegung zu setzen. Gescheitert sind sie aber an den Strukturen, in denen sie arbeiten. Wird höchste Zeit, das sich da was ändert. Ich kann es nicht besser ausdrücken als Christiane in ihren Kaffeesatzlesereien für 2014: […]

  9. Nicolas sagt:

    Ich weiß nicht, ob ich blind bin, ich habe die Fette Hoppe gerade nochmal im Schnelldurchlauf durchgeguckt. Wer hat da eine sichtbare Behinderung?

  10. Christiane sagt:

    Es gab zwei Rollstuhlfahrer im Tatort „Fette Hoppe“ und jemanden mit Down-Syndrom.

  11. Nicolas sagt:

    Hm. Ich hab den gerade nochmal in 10s Schritten durchgeschaut, die Rollstuhlfahrer müssen verdammt kurz im Bild gewesen sein. Und wer hatte da ein Down-Syndrom?

  12. Nicolas sagt:

    Jetzt habe ich eine Rollstuhlfahrerin entdeckt, die eine knappe Sekunde im Bild war. Als Rolle würde ich das aber nicht bezeichnen.

  13. Christiane sagt:

    Ein Gast bei der Feier. Alles keine Mega-Rollen, aber darum geht es auch nicht.