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Die Zeiten ändern sich

Manchmal hat man ja den Eindruck, es geht in Bezug auf Barrierefreiheit und der gleichberechtigten Teilhabe nichts voran. Wenn man manche Dinge aber mit etwas Abstand betrachtet, stimmt das so gar nicht. Gesetze ändern sich, Menschen ändern sich und manchmal auch Unternehmen. Ein Verlag, der mich 1997 noch als studentische Hilfskraft ablehnte, weil ich Rollstuhlfahrerin bin, gibt 2010 ein Buch zum Behindertengleichstellungsrecht in Deutschland heraus, Herausgeber ist ein Rollstuhlfahrer. Die Zeiten ändern sich. Es ist manchmal gut, sich das vor Augen zu führen.

Learning by doing

Nachdem die erste Ausgabe meiner Zeitung verteilt ist, habe ich ein bisschen Zeit, Resumee zu ziehen. Ich habe noch nie zuvor in meinem Leben so viel gelernt wie in den letzten Monaten. Über Geschäfte machen, England, Deutschland und über mich selbst. Ich bin im Frühjahr letzten Jahres auf die Idee gekommen, diese Zeitung zu gründen. Damals war ich noch bei BBC. Es gibt in London für jede Community eine Zeitung, nur die Deutschen, Österreicher und Schweizer haben keine, dabei ist die Gruppe relativ groß (ca. 200 000 im ganzen Land) und es gibt diverse Geschäfte, die sich nicht zuletzt an deutschsprachige Kunden richten.

Wenn man im Jahr 2008 eine Zeitung gründet, ist die Anzahl der Menschen, die einen nicht für verrückt halten, relativ überschaubar. Umso wichtiger war es, selbst an das Projekt zu glauben und sich sehr darauf zu besinnen, was man wirklich will. Ich habe mir mal eine Liste mit Dingen zusammen geschrieben, die ich jedem raten würde, der sich selbstständig machen will und die mir sehr geholfen haben.

  • Glaub an Dich selbst und an Dein Produkt. Es gibt keinen wichtigeren Ratschlag.
  • Sei realistisch. Klein anfangen ist oftmals das Beste.
  • Gib alles ab, was andere besser können als Du, aber behalte die Kontrolle.
  • Man muss nicht alles können, aber man kann vieles lernen.
  • Sammele Leute um Dich herum, die Dich unterstützen. Leute, die Dir alles madig machen, helfen Dir nicht.
  • Vermeide Zeitdiebe. Man trifft sie überall, sie machen sich wichtig und am Ende kommt nichts dabei raus.
  • Man kann nicht jeden glücklich machen, auch nicht alle Kunden.
  • Hör auf Dein Bauchgefühl, inbesondere wenn Du Leute einstellst oder Verträge schließt.
  • Rede mit Deiner Zielgruppe. Früh, immer und kontinuierlich.
  • Lass Dir Ratschläge geben, aber entscheide selbst.
  • Jeder Mensch macht Fehler. Am Ende ist alles gar nicht so schlimm.
  • Hab Spaß daran, was Du tust.

Politisch korrekte Sprache hinderlich bei der Einstellung

Die Angst davor, sich nicht politisch korrekt auszudrücken, hindert Arbeitgeber an der Einstellung behinderter Menschen. Sagt jedenfalls diese Studie. Ich würde sagen, das ist, wenn überhaupt, ein eher angelsächsisches Problem. Ich habe in Deutschland noch nie erlebt, dass jemand nach Worten suchte, um sich korrekt auszudrücken beim Bewerbungsgespräch. Im Gegenteil. Und überlegt sich wirklich jemand „Ich weiß nicht, wie ich die Behinderung nenne, deshalb lade ich ihn nicht zum Bewerbungsgespräch ein“? Das Problem ist wohl doch etwas vielschichtiger.

Mir ist auch schon passiert, dass ich im Bewerbungsgespräch als erstes gefragt wurde: „Warum sitzen Sie denn im Rollstuhl?“ Das ist zwar eine einwandfreie Formulierung. Aber als Eröffnungsfrage selten dämlich.

Die Bahn und ihre Vorstellungen über behinderte Kunden

Ich fahre am Mittwoch auf die Internationale Funkausstellung nach Berlin. Beruflich und mit der Bahn. Da die Züge bekanntlich nicht barrierefrei sind, muss ich mich bei der Bahn voranmelden. Seit geraumer Zeit geht das sogar im Internet (Liebe Fluggesellschaften, ausnahmsweise könntet ihr das der Bahn mal nachmachen! Es gibt ja ansonsten wenig, was man sich da abgucken sollte.).

Das Formular zu eben dieser Voranmeldung sieht so aus (Ausschnitt):

Formular

In den Vorstellungen der Deutschen Bahn über ihre behinderten Kunden scheinen Berufstätige nicht vorzukommen. Auch wenn mein Arbeitgeber weder eine Schule, noch ein Verband und schon gar kein Rehazentrum ist, ich habe mir erlaubt den da jetzt mal hinzuschreiben.

Europäischer Protesttag

Heute ist der Europäische Protesttag für die Gleichstellung behinderter Menschen. Jedes Jahr am 5. Mai versuchen die Behindertenverbände das mediale Interesse auf ihre Forderungen zu lenken – meist mit mässigem Erfolg. Zudem erheben sich dann auch Politiker aus den hinteren Bänken, um wenigestens einmal im Jahr ihr behindertenpolitisches Engagement auf der To-Do-Liste abzuhaken.

Ich halte mich durchaus für behindertenpolitisch gut informiert, aber dass es einen „Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion für Menschen mit Behinderungen und Sozialhilfeempfänger“ (das ist der offizielle Titel!) gibt, war mir bislang neu. Schön auch, dass man Synergieeffekte nutzen möchte und Jörg Rohde – so heißt der Volksvertreter – behinderte Menschen und Sozialhilfeempfänger gleich gemeinsam betreut. Behinderte Menschen arbeiten ja eh nicht und kriegen Geld vom Staat – oder was soll dieser Titel aussagen?

Da passt es auch ganz gut, dass Herr Rohde zum 5. Mai fordert, den Kündigungsschutz für behinderte Arbeitnehmer abzuschaffen. Über den Kündigungsschutz kann man ja diskutieren. Aber vielleicht besser in einem anderen Rahmen? Und nicht, ohne sich vorher ausgiebig informiert zu haben. Darüber zum Beispiel, ob der Kündigungsschutz nicht doch wichtig ist, wenn Menschen erst im Laufe ihres Berufslebens behindert werden und jemand nach einer Krankheit oder einem Unfall weiter beschäftigt werden möchte. Nicht alle Arbeitgeber empfangen den ehemals nicht behinderten Arbeitnehmer wieder mit offenen Armen, wenn er plötzlich blind, gehörlos, chronisch krank oder im Rollstuhl sitzt. Und Herr Rohde sollte sich auch darüber informieren, dass der Kündigungsschutz in erster Linie besagt, dass behinderte Arbeitnehmer nicht ohne Zustimmung des Integrationsamtes gekündigt werden dürfen. Das heißt aber im Umkehrschluß, behinderte Menschen dürfen sehr wohl gekündigt werden. Das Integrationsamt stimmt in der großen Mehrheit der Fälle der Kündigung sogar zu – und zwar laut Gesetz innerhalb eines Monats. Wenn man sich überlegt, dass diese Kündigungsregelung vielleicht dazu führt, dass ein Dachdecker, der vom Dach fällt und anschließend querschnittgelähmt ist nach Rücksprache mit dem Integrationsamt weiter im Büro der Firma arbeiten kann, regt mich die Regelung nicht wirklich auf.

Ich hätte mir von der FDP gewünscht, dass sie mal die wirklichen Einstellungsbarrieren behinderter Menschen auf dem Arbeitsmarkt diskutiert: Bauliche Barrieren und Barrieren in den Köpfen potenzieller Arbeitgeber. Der Kündigungsschutz wird häufig vorgeschoben, wenn man nicht zugeben will, dass man Berührungsängste oder Vorurteile hat und sich deshalb gegen den behinderten Bewerber entscheidet. Schafft man den Kündigungsschutz ab, erreicht man vielleicht, dass die Ausreden blöder werden. Nur damit ist ja niemandem gedient.

Minderheit in der Minderheit

Ich habe gerade einen sehr interessanten Aufsatz gelesen und bin darüber auf den Mikrozensus 2003 gestoßen. Dort ist zu lesen: „Im Mai 2003 belief sich die Erwerbsquote bei den behinderten Männern auf 30%, bei den behinderten Frauen auf 21%. Für die Nichtbehinderten ergaben sich hierfür wesentlich höhere Werte (Männer: 71%, Frauen: 53%).“ Damit bin ich definitiv eine Minderheit in der Minderheit und das gefällt mir gar nicht. Nicht wegen mir, sondern wegen der Mehrheit.

Man muss allerdings bedenken, dass viele behinderte Menschen älter sind, das heißt schon aus Altersgründen nicht mehr arbeiten. Dennoch sind die Zahlen nicht alleine auf die Altersstruktur zurückzuführen. Es gibt nämlich noch weitere Angaben: „Verglichen mit den Nichtbehinderten waren die Behinderten häufiger erwerbslos: Während die Erwerbslosenquote – der Anteil der Erwerbslosen an den Erwerbspersonen in Prozent – bei den Nichtbehinderten 10,9% betrug, belief sich diese Quote bei den Behinderten auf 16,5%.“

Man muss dabei zudem berücksichtigen, dass viele behinderte Menschen nicht arbeitslos gemeldet sind, weil sie in Rente sind, nicht nur altersbedingt. Das ist ein heikles Thema. Natürlich gibt es Menschen, die wirklich nicht (mehr) arbeiten können. Ich glaube aber, es sind weit weniger als die, die nicht mehr arbeiten. Viele von ihnen geraten in die Mühlen der Bürokratie, man schickt sie also in Rente statt zu überlegen, wie man den Arbeitsplatz nach einem Unfall oder einer Krankheit anpassen kann – technisch oder organisatorisch.

Andere haben einfach keine Kraft, sich gegen alle Widerstände im Berufsleben durchzusetzen. Das ist gar nicht vorwurfsvoll gemeint, sondern klar ist: Wer behindert ist und arbeiten will, muss einige Barrieren überwinden – bei Vorurteilen angefangen. Es reicht oft nicht, seine Arbeit gut zu machen. Man muss gegen ganz andere Widerstände kämpfen – für eine barrierefreie Umgebung, für Arbeitsassistenz etc. Das ist unterdessen relativ gut gesetzlich geregelt. Aber was nutzt das im Alltag wirklich, wenn man nicht mal barrierefrei zum Bewerbungsgespräch kommt? Klagen vor der Einstellung? Wohl kaum.

Wenn das einem irgendwann zu viel wird, denkt so mancher vielleicht doch darüber nach, in Rente zu gehen. Und mir sind zudem Leute bekannt, die von ihrem Kostenträger als sie über 50 waren massiv unter Druck gesetzt wurden, bitte in Rente zu gehen, weil die Rente bis zur Altersrente günstiger war als die Arbeitsassistenz zu zahlen. Natürlich gut für den Kostenträger, aber meist mit massiven finanziellen Einbußen für die Leute verbunden. Und zudem wollen die ja eigentlich weiter arbeiten!

Nun weiß ich, dass es noch andere Lebensinhalte gibt als Arbeit. Dennoch hat Arbeit ganz klar eine soziale Funktion. Ich habe immer noch den Glauben daran, dass die Mehrheit der Bürger in Deutschland nicht nur wegen des Geldes arbeiten geht, sondern auch, weil sie das, was sie tun zumindest ein bisschen gerne machen. Zudem ist der Arbeitsplatz auch ein soziales Umfeld, eine Möglichkeit Menschen zu treffen, Herausforderungen anzunehmen etc. Und es gibt noch weitere Gedanken, die mir so mache: Es ist erheblich schwerer eine eingetretene Behinderung zu akzeptieren, wenn man die Behinderung für den Verlust des Arbeitsplatzes verantwortlich macht – manchmal zu unrecht, weil nicht die Behinderung, sondern die Umwelt schuld war. Aber viele sehen das so nicht.

Ich bedauere sehr, dass ich eine Minderheit in der Minderheit bin. In den USA sieht es übrigens nicht besser aus.

Behinderte Menschen im Berufsleben

Mir sind schon viele lustige Dinge erzählt worden, seit ich zur arbeitenden Bevölkerung gehöre. Einige Zeitgenossen glauben, behinderte Menschen können gar nicht arbeiten, andere denken, sie arbeiten nicht auf dem 1. Arbeitsmarkt und wenn, dann nicht in meinem Beruf.

Eine Legende habe ich allerdings noch nie gehört: Behinderte Arbeitnehmer müssen mit anderen behinderten Kollegen mit der gleichen Behinderung in einem Raum sitzen. Da muss man erst einmal drauf kommen! Bei Siemens in Amberg scheint das aber so zu sein. Die Mittelbayerische Zeitung zitiert die Betriebsärztin:

„Außerdem ist wichtig, dass Menschen mit gleicher Behinderung im gleichen Raum sitzen und miteinander sprechen können – so können auch Probleme bei der Arbeitsorganisation viel schneller und besser bewältigt werden.“

Dann heißt es demnächst im Bewerbungsgespräch: „Sie haben MS? Nein, dann können wir Sie leider nicht einstellen. Aber im Zimmer von den Blinden wäre noch ein Schreibtisch frei. Falls Sie da jemanden kennen, der in Frage käme…“. Und muss dann der blinde Buchhalter seinen Schreibtisch in der Fertigungshalle aufstellen, nur weil da ein blinder Kollege Teile fertigt? Und was ist, wenn ein Rollstuhlfahrer in die Geschäftsführung aufsteigt? Muss der dann dennoch in der Poststelle sitzen, weil da jemand mit der gleichen Behinderung Briefe sortiert? Und nach welchen Gesichtspunkten werden eigentlich die Schreibtische der nicht behinderten Angestellten vergeben? Ich tippe auf Haarfarbe und Schuhgröße.

Und noch eine Anmerkung: Wie kann man einen Bericht über behinderte Arbeitnehmer in einem Unternehmen schreiben, ohne diese ein einziges Mal zu Wort kommen zu lassen? Stattdessen sprechen der Personalleiter, die Schwerbehindertenbeauftragte und die Betriebsärztin über die Mitarbeiter.