Tag Archiv für Assistenz

Noel Martin will sterben

Ich hoffe sehr, dass diese Geschichte genauso durch die deutschen Medien geht, wie hier in England. Wenn nicht, hinsetzen, liebe Kollegen, schreiben. Denn das ist nicht zuletzt eine deutsche Tragödie, auch wenn es um einen Briten geht.
Noel Martin wurde von deutschen Neo-Nazis 1996 attackiert. Es kam zu einem Unfall, durch den Noel Martin vom Hals abwärts gelähmt ist. Er hat eine Stiftung gegen Rassismus gegründet und ist für viele Menschen eine Inspiration. Nun will dieser Mann sterben, weil er sein Leben für nicht mehr lebenswert hält.
Liz Carr, eine von mir hoch geschätzte Comedian, die selber im Rollstuhl sitzt, hat ihn besucht, und versucht, ihn umzustimmen. Anschließend hat sie einen Brief verfasst, in dem sie ihn bittet, weiterzuleben. Ich könnte jeden Buchstaben davon unterschreiben. Und Noel Martin antwortet: Er will sterben. Fast wirkt es als sei er innerlich schon tot.
„Wenn Noel Martin stirbt, haben die Nazis doch noch Erfolg gehabt“, ist das, was mir durch den Kopf geht. Das darf doch nicht sein. Das ist eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit. Und dann lese ich in Liz‘ Brief, dass er um Assistenz kämpfen musste, dass er seit Januar das Zimmer nicht mehr verlassen hat und er wirkt nicht als sei er in guter gesundheitlicher Verfassung. Ein nett eingerichtetes Zimmer sieht auch anders aus.
Manchmal, wenn ich über Leute lese, die sich unbedingt das Leben nehmen wollen, bin ich genervt und denke „Was soll das?“, aber in dem Fall ist das anders. Ich bin total geschockt, dass jemand seit Januar in einem Zimmer rumliegt, der eigentlich im Licht der Öffentlichkeit stehen müsste. Ist das auch ein Assistenzproblem? Ich reite darauf so rum, weil ich weiß, wie wichtig diese Frage für die Lebensqualität ist. Ich dachte, wenn jemand wie Noel Martin irgendwo einen Antrag stellt – ob in Deutschland oder in England – dann stehen alle Gewehr bei Fuß und bewilligen, bewilligen, bewilligen. Wenn nicht bei ihm, wann dann?
Ich bin absolut ratlos, was man tun könnte. Denn ich wünsche ihm nichts mehr, als dass er sein Leben liebt. Sein Pferd hat in Ascot gewonnen und er hat tolle Projekte angestoßen. Jetzt soll das alles nichts mehr wert sein? Ich kann das nicht glauben und muss an Elke Bartz denken, die haargenau die gleiche Behinderung hatte. Sie hat viele Menschen berührt – das, was Noel Martin sagt, er nicht mehr könne – ganz ohne die Hand zu heben. Und sie hätte gerne weitergelebt und durfte nicht.

Existenzgründung in England

Ich koche derzeit zwar nur auf Sparflamme, weil mich meine Bronchitis so quält, ich habe mich aber gestern dennoch aufgerafft und bin zum einem Informationstag der Steuerbehörde gegangen. Mehrmals im Jahr veranstaltet die Steuerbehörde an verschiedenen Orten einen Business Advice Day. Zum einen stellen sich dort verschiedene Organisationen vor, zum anderen gibt es Vorträge und Beratungsmöglichkeiten. Das ganze ist zudem kostenlos.

Ich habe endlich meine Fragen zur Umsatzsteuer und zum Handel mit EU-Ländern beantwortet bekommen und habe auch sonst viel gelernt und nette Leute getroffen. In einem meiner Seminare saß jemand, der gehörlos war. Später habe ich in einer Broschüre einen Artikel über ihn gelesen. Business Link (das ist eine Organisation, die Seminare anbieten und Selbstständigen helfen, staatlich finanziert) hat ihn dabei unterstützt, sich als Designer selbstständig zu machen. Sie haben ihm die Dolmetscher bei den Weiterbildungsseminaren gestellt, die sie selber anbieten. Business Link war auch die Organisation, die mich gestern sofort ansprach als ich ankam. Sie haben mir ohne Nachfrage gesagt, dass alle ihre Seminare barrierefrei sind und ich ihnen nur sagen muss, welche Assistenz ich benötige. Ich musste spontan an die Handelskammern denken, die man immerhin noch mit Beiträgen finanziert als Unternehmer. Ob die wohl Dolmetscher stellen und auf Barrierefreiheit achten?

Besuch vom Amtsarzt

Weil ich einen Antrag auf Disability Living Allowance gestellt habe, hatte ich Besuch von einem Amtsarzt. Wenn man bedenkt, dass der Antrag mehr als vier Monate alt ist, wurde es auch höchste Zeit. Langsam habe ich raus, wie diese Anträge hier abgewickelt werden. Meist gehen die Leute nur einen Fragebogen durch. Wer durch Deutschlands Bürokratiedschungel gegangen ist, für den ist England eine Kaffeefahrt. Die Beurteilung der Behinderung beruht rein auf meinen Angaben, was ich kann und was ich nicht kann. Es geht zudem um die Bewältigung des Alltags. Wer aktiv ist, braucht vielleicht mehr Assistenz als jemand, der den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzt. In Deutschland bemisst sich alles nach Pflegeminuten. Ich brauche aber keine Pflege, sondern eher Hilfe beim Einkaufen oder bei anderen Aktivitäten.

Der Unterschied zwischen dem britischen und dem deutschen System ist das Bild von Behinderung, das zugrunde gelegt wird. Wenn jemand gerne ins Kino geht, soll ihm das auch möglich sein, wenn er auf Assistenz angewiesen ist. In Deutschland gilt das als Luxus. Ich habe in Deutschland meine Assistenz selber bezahlt, weil ich keine Pflegestufe bekam. Zu fit fürs System. Wenn ich die Ausführungen des Arztes richtig deute, ist das jetzt vorbei und ich bekomme sogar mehr als ich beantragt habe. Ich bin gespannt, wie der Bescheid aussieht.

VIP versus disabled

Die Behindertenbewegung Englands hat es auf die Promis abgesehen. Nach Heather Mills ist jetzt Victoria Beckham dran. Die fuhr am Flughafen Heathrow wohl mit Wagen, der eigentlich für den Transport für behinderte Fluggäste vorgesehen ist. Ich verstehe mal wieder die Aufregung nicht. Ich meine, das heißt doch, dass VIPs in Heathrow genauso behandelt werden wie behinderte Fluggäste. Ich habe übrigens wirklich schon relativ viele VIPs getroffen, die mit mir zum Flugzeug gebracht wurden. Aber behinderte Fluggäste dürfen trotzdem eher boarden. Ich erinnere mich noch gut an das entsetzte Gesicht eines Mitarbeiters als es hieß, dass ich zuerst einsteige und der Herr VIP warten muss. Es handelte sich dabei um den Flughafenchef von Düsseldorf, der an seinem eigenen Flughafen warten musste, was offensichtlich als mittelschweres Drama angesehen wurde. Ich fand in dem Moment, dass es nach diesem Erlebnis am Flughafen Düsseldorf wohl doch noch ausgleichende Gerechtigkeit gibt.

Ich bezweifele allerdings, dass Victoria Beckham genauso lange auf den Service beim Aussteigen warten musste, wie es sonst so in Heathrow üblich ist, wenn man als behinderter Fluggast auf Assistenz angewiesen ist.

Ashley

Zu Ashley fällt mir nur Artikel 2 des Grundgesetzes ein:

„Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“

Und ich kenne einfach zu viele groß gewachsene, auf Rund-um-die-Uhr-Assistenz angewiesene Menschen, die auch als 1,80m-Menschen angemessen versorgt werden, als dass ich die Argumente der Eltern irgendwie nachvollziehen könnte. Es gibt Dinge auf dieser Welt, die finde ich einfach nur gruselig.

Persönliche Assistenz

Viele behinderte Menschen greifen zur Unterstützung auf persönliche Assistenz zurück. Ich habe auch jemanden, die mir einmal in der Woche gegen Geld zur Hand geht und all das macht, was ich nicht kann oder mir zu mühsam ist. Hin und wieder muss man sich auch neue Assistenten suchen. Wenn der Assistenznehmer allerdings Stephen Hawking heißt, ist das den Medien schon mal eine Meldung wert.

Und diese Meldung kann man dann auch nicht schreiben, ohne den Lesern mitzuteilen, dass „der Geistesgigant“ „von einer schweren Krankheit gezeichnet“ ist und „seit Jahrzehnten“ im Rollstuhl sitzt (danke, dass wenigstens die „an den Rollstuhl gefesselt“-Floskel weggelassen wurde). Weiter erfahren wir, dass er seit einem Luftröhrenschnitt nicht mehr sprechen kann und sich „über einen Sprachcomputer verständigen muss“. Kann man nicht einfach schreiben, dass er im Rollstuhl sitzt und einen Sprachcomputer nutzt? Diese Dramatisiererei nervt und hat nur einen Zweck: Mitleid erzeugen.

Die wichtigste Information fehlt übrigens in dem Text: Wer sich bewerben will, die Stellenanzeige ist online abrufbar. ;-)