Voll bemüht

Die Aktion Mensch hat heute eine „Aufklärungskampagne“ (Zitat Aktion Mensch) gestartet. „Voll im Leben“ heißt die Kampagne. „Sie zeigen, dass sie [Menschen mit Behinderungen] ganz selbstverständlich Teil unserer Gesellschaft sind,“ heißt es auf der Kampagnenseite, die mit Sprüchen wie „Voll behindert, nicht alle mitspielen zu lassen. Für Freizeit, in der jeder gewinnt.“ Zu sehen ist ein Mann mit Prothese, der gemeinsam mit anderen Fußball spielt. Plakat der Aktion Mensch

Ähm, waren wir nicht schon einmal weiter? Muss 2010 wirklich noch dafür geworben werden, einen Mann mit Prothese im Fußballverein nicht auszugrenzen? Und muss die Gesellschaft wirklich über eine Plakatkampagne lernen, dass es behinderte Menschen gibt, die dazu gehören?

Ich gebe zu, ich lebe nicht mehr in Deutschland und kriege einiges nicht mehr so mit, aber ich halte Deutschland dann doch für fortschrittlicher.

Berufliche Integration und schulische Integration sind wichtige Themen. Ich weiß, dass es da riesen Probleme in Deutschland gibt, aber ich glaube leider nicht an den Effekt der Kampagne. Dafür ist sie zu brav und auch nicht provokant, wie die Aktion Mensch aber glaubt.

Ein rollstuhlfahrendes Mädchen in eine Regelschule zu schicken ist doch nicht wirklich das Problem, jedenfalls nicht für die Klassenkameraden auf dem Poster. Ein Problem sind die Bürokraten, die die Pflege während der Schulzeit nicht zahlen wollen und der nicht barrierefreie Schulbus. Und ich vermute mal, dass die Gäste weit weniger Probleme mit einer Kellnerin, die Down-Syndrom hat, haben als der Arbeitgeber. Die Kampagne verschweigt die Ursachen für Ausgrenzung.

Die Idee, Sonja Kurfiß Carina Kühne, die Kellnerin, einen Blog über ihren Alltag schreiben zu lassen, fand ich gut, allerdings nur so lange bis ich den Eindruck hatte, da hat eine Agentur über die Texte nicht nur drüber gelesen. Da lobe ich mir Ohrenkuss. Gerade weil da keine Agentur „drüber schaut“.

Die Aktion Mensch hat schon in den 90er Jahren eine erheblich pfiffigere Kampagne gestartet: Die Aktion Grundgesetz, die sich für mehr Rechte behinderter Menschen einsetzte – provokant und präsent.

Postkarte der Aktion Grundgesetz:

Die Aktion Grundgesetz hatte gute Werbemittel und flotte Sprüche. „Voll behindert…“, „voll krank…“, „voll gestört“… finde ich weder provokant noch originell. Zudem benennt die Kampagne keine Adressaten. Ich bin sicher, die Mehrheit der Deutschen ist für die Inklusion behinderter Menschen. Die Probleme bei der Umsetzung sind aber komplexer als einen amputierten Mann mitspielen zu lassen.

15 Kommentare

  1. EinAugenschmaus sagt:

    @Christiane Sehr guter Artikel! Die früheren Kampagnen waren wirklich pfiffiger!

  2. erz sagt:

    Schön wär’s, wenn Deutschland weiter wär – aber Alltagsbegegnung mit Behinderung ist längst keine Normalität, die ich in Deutschland beobachte. Da gibt es immer noch viel zu viele Menschen, die gar nicht wissen, wie viele behinderte Mitbürger eigentlich auch an der Gesellschaft teilhaben möchten. Die Behinderte als Fremdkörper empfinden. Die Kampagne mag jetzt nicht das Gelbe vom Ei sein, aber mir scheint, dass „awareness“ immer noch (oder gar wieder? waren wir schon mal weiter?) ein großes Defizit in Deutschland ist.

  3. Sylvia sagt:

    An der ehemaligen Dorfgrundschule meines Jüngsten gibt es seit etwas über 2 Jahren ein Modell, bei dem ein paar wenige behinderte Kinder mit Hilfe zusätzlichen Personals in eine Klasse mit nicht behinderten Schüler integriert werden. Das gab viel positive Presse.

    Die behinderten Kinder sind teilweise körperlich behindert, teilweise seelisch. Manchmal sieht man die Behinderung sofort aufgrund des Rollstuhls oder des Bewegungsmusters, bei anderen sieht man sie nicht.

    Es ist ein reiner Etikettenschwindel, zumindest bei den seelisch Behinderten. Die Sonderpädagogen haben weder Lust noch richtige Ahnung, die Kinder werden teilweise ziemlich schlecht behandelt, aber sie können sich ja nicht wehren. Ich habe es selbst gesehen, und meine Tochter hat dort ein Praktikum gemacht, sie hat durch unsere familiäre Situation und ehrenamtliche Mitarbeit in einem Bereich, der auch diese Kinder betrifft, viel Ahnung von der Materie und war täglich auf’s Neue entsetzt.

    Die Inklusion ist sicher für viele Behinderte sehr erstrebenswert, und ich finde es eher erstaunlich, dass das auch heute noch ein laut Medien eher „neues“ Thema ist. Schon in den Siebziger Jahren gab es an unserem Gymnasium zwei körperlich stark behinderte Schüler. Seitdem hat sich wohl nicht viel getan…..

    Inklusion aber ist nicht das Allheilmittel für alle. Ich erlebe leider, dass aus Gründen der Einsparung in den sich zum Glück künftig gesundschrumpfenden Klassen, wo eigentlich endlich wieder gut unterrichtet werden könnte (jahrelang waren meine Töchter mit 32 Mitschülern zusammengepfercht), die freien Plätze zwangsgefüllt werden sollen mit (überwiegend seelisch) behinderten Kindern. Förderschulen sollen geschlossen werden, jedes Kind wird irgendwie durch das Regelschulsystem gezerrt. Bei manchen Behinderungen funktioniert das aber nicht wirklich, da braucht man Personal, Räumlichkeiten und Fachkräfte.

    Verkauft wird das alles als wohlmeinende Inklusion, aber es ist eine glatte Lüge. Es geht nicht um die behinderten Menschen, es geht um Einsparungen.

    Mehr Toleranz in der Gesellschaft gibt es trotzdem nicht, ich bin oft genug entsetzt über Sprüche, die inzwischen scheinbar wieder „erlaubter“ sind als noch vor ein paar Jahren.

    Die von dir erwähnte alte Kamagne der Aktion Mensch gefällt mir auch viel besser. Wie oft habe ich das Gefühl, dass meine Kinder deutlich weniger behindert sind als so manch eiskalter stromlinienförmiger Unsympath….

  4. Wieland sagt:

    Wer ist denn Sonja Kurfiß?
    Im Blog von Carina Kühne steht, dass sie „in diesem Blog ohne redaktionelle Einflussnahme seitens der Aktion Mensch [schreibt]“. Das schließt eine Korrektur einer Agentur natürlich nicht aus, aber wieso vermutest du, dass das so ist?

  5. Wieland sagt:

    P.S.: Die Länderflagge vor meinem Namen stimmt nicht. :-)

  6. Christiane sagt:

    @Wieland (4)
    Namen habe ich wohl verwechselt, habe ich geändert, danke!
    Ich habe keine Beweise, dass da ne Agentur korrigiert / mitschreibt oder was auch immer. Ist nur eine Vermutung bzw. ein Bauchgefühl. Aber die Texte kommen mir nicht natürlich geschrieben vor.
    Ich schalte die Länderflaggen mal aus. Ich lebe auch nicht in Kanada. :-) Habe die Datenbank mal aktualisiert. Jetzt sieht das schon besser aus.

  7. Was ist denn das Ziel dieser Kampagne?
    Dass ein paar Politiker in die Hände klatschen, sich dann gemeinsam mit Rollstuhlfahrern fotografieren lassen und sagen können, wie toll… und so weiter?
    Oder dass sich wirklich etwas ändert?
    Ich weiss nicht, wie viele Bahnhöfe oder U-Bahn-Stationen bundesweit inzwischen barrierefrei sind (mit Sicherheit noch nicht alle) oder schnell man in irgendeiner Innenstadt eine barrierefreie Toilette findet.
    Vielleicht wäre es sinnvoller, wenn ein paar „Entscheidungsträger“ und/oder Journalisten mal für ein paar Tage versuchen, sich mit Rollstuhl oder schwarzen Augenklappen im Alltag zurecht zu finden und darüber schreiben…

  8. Dorothea sagt:

    Ich glaube ja nicht, dass bei „Behindertspielerei“ was Vernünftiges herauskommt.

    Kennt man das nicht von Zivis, Sonderpädagogikstudentinnen etc., die nach ihrem „Behindertenexperiment“ ganz besonders „liebevoll“ und extra-betüddelnd mit ihren „Schützlingen“ umgehen, weil sie von ihrem Als-Ob nur das Gefühl von Hilflosigkeit und Irritation mitgenommen haben – weil man in 1-3 Tagen ja auch noch gar keine Ideen haben KANN bzgl. Technix, Trix und Ähnlichem.

    Besser wäre es, den ExpertInnen zuzuhören, anstatt Laien in besondere Verkleidung zu stecken und Möchtegerns spielen zu lassen.

  9. michael sagt:

    Ich könnte mal vermuten, warum du vermutest, Carina würde die Texte nicht selber schreiben. Down-Syndrom und so. Ich weiß aber zufällig, dass sie die Texte selber schreibt und keine Agentur drüber schaut. Du solltest vielleicht mal vermuten, welchen Eindruck Carina haben wird, wenn sie deine Vermutungen über ihre Texte liest.

  10. Christiane sagt:

    @Michael Hä? Mit Down-Syndrom hat meine Vermutung nix zu tun, sondern mit der Art, wie die Texte geschrieben sind. Oder willst Du mir unterstellen, ich denke, alle Menschen mit DS können nicht schreiben? Ich habe auch nie vermutet, dass sie die nicht selber schreibt. So tickt die Aktion Mensch nicht. Die Texte sind nur sehr „kampagnengerecht“. Ich lese lieber Blogtexte, die aus dem Leben stammen, nicht aus einer Kampagne oder für eine Kampagne verfasst.

  11. Susi Hanna sagt:

    Ich finde die Kampagne sehr gelungen. Behinderte erfahren leider viel zu oft Abneigung und werden im Alltag oft ausgeschlossen. Die Kampagne zeigt, dass auch behinderte Menschen dank der modernen Technik einen ganz normalen Alltag erleben können sowie an zahlreichen Freizeit-Aktivitäten teilnehmen können. Vielen Menschen ist dies teilweise gar nicht bewusst, die Kampagne klärt auf. Find ich echt gut!

  12. Andreas sagt:

    Der Blog von Carina Kühne, scheint mir auch Redaktionell überarbeitet, so würde noch nicht einmal ich selber schreiben. Schon beim überfliegen scheint mir da einer durchaus länger an den Formuliereungen gefeilt zu haben. Auch die Themenauswahl zeugt irgendwie nicht vom wirklichen Alltag. Ich fände es allerdings zimmlich erbärmlich wenn dem wirklich so ist, den zur seblstbestimmung gehört auch das nicht andere für mich sprechen.
    Wie so oft heißt es auch hier:
    Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht.

  13. Steff sagt:

    Es wird immer schwierig sein behinderte zu integrieren, weil sie einfach anders sind und die meisten Menschen kommen damit einfach nicht zurecht. Traurig aber wahr… Da kann man noch so viel Kampagnen starten…

    Schwule werden auch nie 100% akzeptiert werden

  14. fragend sagt:

    WTF is “
    seelisch behindert“? Geht das nur für Katholiken?

    P.S. Sind wir nicht alle ein wenig seelisch behindert?
    P.P.S. Ja, der strittige Blog ist PR-gestreamlined

  15. Wolfgang sagt:

    Da ich selbst Fußball spiele, gebe ich Dir in sofern recht, das es überhaupt kein Problem ist, wenn ein Mitspieler eine Prothese trägt. Aber bei einem Gegenspieler hätte ich unheimlich Angst ihn in einem Zweikampf zu verletzen oder die Prothese zu beschädigen. Das würde mich hemmen, gegen ihn genauso einzusteigen, wie gegen einen ohne Prothese.