Die Netzeitung hat Rupert Platz von der Agentur Aperto zu Barrierefreiheit interviewt. Die Agentur hat im vergangenen Jahr eine goldene Biene für barrierefreies Webdesign gewonnen. In dem Interview steht zumindest für Leute, die sich schonmal mit Barrierefreiheit im Internet befasst haben, nicht wirklich neues. Aber das macht ja nix. Es gibt ja auch noch Leute, die nicht wissen, worum es geht. Deshalb finde ich solche Interviews durchaus nützlich und nicht wertlos.
Aber was hat den Herrn denn geritten sich wie folgt zitieren zu lassen:
„Behinderte sind nur eine Gruppe von vielen, die auf Web-Barrieren stoßen – allerdings auch eine besonders kleine und hilfsbedürftige. Daher hat sich der Gesetzgeber auf sie bezogen, als er 2002 alle staatlichen Websites auf Bundesebene zur Barrierefreiheit verpflichtet hat.“
Behinderte Menschen sind eine kleine und hilfsbedürftige Gruppe? Deshalb hat der Gesetzgeber das Behindertengleichstellungsgesetz geschaffen? Könnte es nicht vielleicht sein, dass es um gleichberechtigte Teilhabe in dem Gesetz geht und gerade nicht um Hilfsbedürftigkeit?
Und dass es um eine kleine Gruppe geht, möchte ich auch bezweifeln. Außerdem geht es in dem Gesetz nicht nur um das Internet, sondern um Barrieren in allen Lebensbereichen. Das ist ein Gesetz für Menschen mit Behinderungen. Der Gesetzgeber hat sich keinesfalls nur „auf sie bezogen“.
Weiter erzählt Herr Platz seine Meinung zum Begriff „Barrierefreiheit“: „Der Begriff ‚Barrierefreiheit‘ ist da auch missverständlich, man assoziiert das ja gleich mit Rücksichtnahme gegenüber Minderheiten, mit einer Art virtuellen Rollstuhlrampe am Seiteneingang, und genau darum geht es eben nicht.“
Ähm, darum geht es aber auch beim Begriff Barrierefreiheit gerade nicht. Nach Definition im Gesetz, wäre die Rampe am Seiteneingang nicht barrierefrei, sonders es geht um den Zugang zu einem Gebäude „in der allgemein üblichen Weise“. Nix Seiteneingang. Und um „Rücksichtnahme gegenüber Minderheiten“ geht es auch nicht. Es geht um die gleichberechtigte Teilhabe einer bestimmten Gruppe in der Gesellschaft. Seit dem Sozialgesetzbuch IX und dem Behindertengleichstellungsgesetz geht es gerade nicht mehr um die armen Behinderten, die Hilfe brauchen, sondern es hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Zumindest war das Absicht des Gesetzgebers und so kann man es auch – für deutsche Verhältnisse deutlich – im Gesetzestext lesen.
Ich finde, dafür hat Aperto aber einen fetten Abzug in der B-Note verdient. Barrierefreiheit hat nämlich viel mit Einstellung zu tun, nicht nur mit Programmieren. Aber die nächste Biene-Runde steht vor der Tür. Vielleicht kann das die Jury ja berücksichtigen.
Ich weiß langsam nicht mehr weiter. Da gibt es mal eine vernünftige Gesetzesinitiative, ansonsten gibt es einige sehr engagierte kämpferische Personen (interessanterweise in großer Mehrheit Frauen), mensch klärt auf und kämpft und erklärt – um immer wieder zu erfahren: man ist klein, doof und behindert. Man bedarft der Rücksicht, der Schonung, der Betreuung. Man ist Behindi-Kindi mit Transitvisum durch die Welt der „Normalen“.
Es ist ganz einfach nur noch zum Reihern.
@Dorothea
Ich ärgere mich auch darüber, aber nicht zuletzt deshalb schreibe ich dieses Blog, um nicht „klein“ und „hilfsbedürfig“ zu sein und zu sagen, was mich behindert. Das mit dem Transitvisum finde ich ein interessantes Bild. Ich komme mir manchmal auch ein bisschen so vor. Aber ich glaube, wir haben schon viel mehr erreicht als das.
Man darf nicht aufgeben und ich freue mich über jedes Blog, über jeden Kommentar und jede Mail von Menschen, die ähnlich ticken und für Selbstbestimmung eintreten. Ich habe das Gefühl, es sind gar nicht so wenige und auch nicht nur behinderte Leute.
Hm, also ich hätte das zweite Zitat genauso interpretiert, wie du es auch danach getan hast. Also das der Begriff viele Leute *fälschlicherweise* noch an die Verhältnisse von vor 2001 denken läßt.
Deswegen sagt er ja auch im nachfolgenden Satz, „Das englische Wort «Accessibility» trifft es deutlich besser: Erreichbarkeit, freier Zugang zu Informationen.“
Und frei kann ein Zugang nur dann sein, wenn er auch für jeden gleichbereichtigt und in jeder Lebenslage zugänglich ist…
Die Erfahrung, daß viele Leute -auch und gerade Redakteure von Nachrichtenmagazinen- zu schnell Barrierefreiheit mit der alten Form von Behindertenfreundlichkeit gleichsetzen, mache ich leider auch immer wieder… :(
Aber deswegen muss man ja nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen, oder? Erst recht nicht, wenn der Text (ganz sicher) durch eine redaktionelle Aufbereitung ging…
@xwolf
Das Wort Barrierefreiheit wurde vor dem BGG weit weniger genutzt als heute und ist dort klar definiert. Ich halte es nicht für missverständlich. Auch im Englischen spricht man unterdessen übrigens auch von „barrier-free“ neben „accessible“.
Es handelt sich um ein Interview, nicht um einen Artikel. Ich gehe mal davon aus, dass dieses Interview von Aperto autorisiert wurde. Deshalb glaube ich, dass das schon so gemeint ist und gesagt wurde, wie es da steht.
Ja, es ist schon klar: Wir wissen alle recht genau was Barrierefreiheit bedeutet. Und wer an den richtigen Stellen ließt, sollte es auch wissen.
Trotzdem: Das Wort suggeriert den oberflächlichen Leser und den mit halbweissen behafteten Redakteur etwas anderes.
Und deswegen ist das Wort Barrierefreiheit einfach Mist.
Jeder kann alles nachlesen. Aber wird es wirklich getan? Hast du §6 MDStV nachgelesen auf den du dich auf der Kontaktseite beziehst?
Oder wird stattdessen dann doch in anderen Quellen geschaut wie es denn wohl gemeint sei?
Zur Wortwahl: Ich lese die gleichen Worte, aber für mich kommt eine andere Meinung daraus hervor als wie du sie interpretierst…
Man kann das Interview so lesen; Insbesondere wenn man sich über das „klein und hilfsbedürftig“ aufregt… aber ich glaub nicht dass es wirklich so gemeint war.
@xwolf
Aber dann ist doch nicht das Wort Barrierefreiheit das Problem, sondern die Oberflächlichkeit der Leute, die darunter was anderes verstehen. Mit der Argumentation wäre jedes Wort genauso problematisch, weil die Leute sich nicht damit auseinandersetzen.
@Christine
Hm… ja für die Oberflächlichkeit spricht viel. Aber mir scheint halt, daß die in diesem Fall viel größer ist als bei anderen Begriffen.
Außer vielleicht beim Begriff „Multimedia“…
Das Problem ist, dass das Wort Barrierefreiheit immer noch mit krankheitsbedingten Barrieren in Verbindung gebracht wird. Im täglichen Leben werden aber alle Menschen irgendwann behindert. Es fängt mit Kindern in einer nicht kindgerechten Umwelt an und auch Eltern mit Kinderwagen werden in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Menschen mit Gepäck nutzen auch sehr gerne Schrägen (wer trägt schon seinen Koffer noch). Es gibt die Farbenblindheit, es gibt die Sehschwachheit im Alter usw. usw. Barrierefreiheit macht das Leben für alle Menschen leichter. Das ist aber noch nicht im Bewußtsein und das ist schade.
Und wenn es hier ganz speziell um barrierefreies Webdesign ging, so denke ich auch, dass es für viele von Nutzen sein wird. Die Entwicklung geht weiter und eine klare Strukturierung ist immer von Vorteil. Für alle.
Oha, da habe ich aber etwas angerichtet … Zu der Debatte oben kann ich mich nur 100% dem Kommentar von outsider anschließen, genau so war meine Formulierung gemeint, die übrigens nicht redaktionell entstellt, aber wie ich jetzt erkenne aus Perspektive von Behinderten vielleicht unglücklich gewählt war. Es tut mir leid, wenn ich hier jemandem damit auf die Füße getreten bin.
Um meinen Punkt zu vermitteln: Wenn ich als Vertreter einer Web-Agentur mit Kunden aus Wirtschaft und Verwaltung über Barrierefreiheit rede, heißt es oft abwinkend: „Ach, die zehn, elf Blinden, die sich im Jahr auf unsere Website verirren …“. Aber dass Web-Barrieren nur Blinde oder auch nur Behinderte allgemein betreffen ist aber einfach falsch (abgesehen davon dass das gar nicht so wenige sind). Wir bemühen uns immer wieder, gegen dieses Klischee „Barrierefreiheit = Für Behinderte“ zu argumentieren. Um Kunden vom Sinn der Web-Barrierefreiheit zu überzeugen, nützt es nämlich meist wenig, mit Stichworten wie „Gesellschaftliche Teilhabe“ zu argumentieren. Was zieht, ist, dass man sich als Betreiber mit seinen Website-Barrieren ins eigene Fleisch schneidet, weil man Geld für etwas ausgibt das viele Menschen nicht benutzen können. Und zwar sehr viele, und bei weitem nicht nur Behinderte. Und dass die Behinderten dabei vielleicht sogar die kleinste Gruppe sind, wenn man an die vielen Millionen Nutzer mit Sehschwäche oder Javascript- und Plugin-Problemen denkt. Und dass all diese Menschen für den Website-Betreiber verlorene Besucher sind, eigenständige Mediennutzer und Konsumenten, die sich ärgern und einfach zur Konkurrenz gehen – nicht Menschen, mit denen man Mitleid haben muss, egal ob behindert oder nicht.
@Rupert
Wunderbar. Das finde ich alles nachvollziehbar. Das hättest Du genau so der Netzeitung erzählen müssen, dann hätte ich auch nicht gemeckert. :-)