DLD13: Wer Behinderung ausrottet, tötet Innovation

„Fast könnte man meinen, der DLD habe sich die angebliche Heilung der Welt als roten Faden ausgesucht“, schrieb ich 2008 als ich vom DLD zurückkam. Der DLD ist eine Konferenz rund um Innovation, auf der ich diverse Male war. Damals bezog ich mich auf die Vorstellung des Unternehmens 23andme. Meinen kritischen Blogeintrag dazu, findet sich hier und ich könnte ihn heute noch unterschreiben.

Im gleichen Jahr musste ich mir dann auch noch anhören, dass ein Leben im Rollstuhl ein Leben zwischen Leben und Tod ist. Ich glaube, das war der Punkt, wo ich die Lust auf den DLD verloren habe.

Und tatsächlich, auch in diesem Jahr tauchte der rote Faden wieder auf. Mir entglitten alle Gesichtszüge als dieser Tweet in meiner Timeline auftauchte:

Das Ausrotten von Behinderung als Innovationsidee? Sind wir wieder soweit, ja? Die entsetzen Reaktionen behinderter Konferenzteilnehmer und Twitterleser ließen nicht lange auf sich warten und wurden erfreulicherweise oft retweetet.

Das ist auch das Positivste, was ich dem Ganzen abgewinnen kann. Behinderte Menschen halten nicht mehr die Klappe, wenn man ihre Abschaffung debattiert. Im Blogeintrag zur Konferenz steht sogar die wunderbare Vokabel „eliminate disability„.

Und abgesehen davon, dass man im Geschichtsunterricht schon ziemlich geschlafen haben muss, um das Thema Behinderung – auch noch in Deutschland – so zu behandeln, es ist auch noch falsch in Bezug auf Innovation.

Viele der Innovationen, die wir heute nutzen, sind nur da, weil es behinderte Menschen gibt. Es waren behinderte Menschen, die die Impulse zu Erfindungen wie der Tastatur, dem Transistor oder Teletext und vielem anderen gaben. Channel4 hat dazu einen hervorragenden Artikel recherchiert. Auch Artur Ortega hat vor drei Jahren für Yahoo! bei der UN einen Vortrag dazu gehalten.

Viele Entwicklungen entstehen, weil Menschen unterschiedlich sind, weil sie unterschiedliche Sichtweisen haben und unterschiedliche Bedürfnisse haben. Die Diversität einer Gesellschaft führt zu Innovation, nicht deren Gleichmachung und das Ausrotten von Behinderung, was sowieso niemals funktionieren wird.

Wer Innovation will, sollte die Vielfalt, die mit Behinderung einhergeht, wertschätzen. Vokabel wie „eliminieren“ und „ausrotten“ spiegeln eine Einstellung wider, die ganz und gar nicht innovativ ist, sondern von vorgestern.

Update: Das Twitter-Team des DLD hat sich unterdessen entschuldigt. Im Blog wurde die Formulierung, die aus dem Programmtext stammt, geändert.

6 Kommentare

  1. Andreas sagt:

    Bleibt die Frage, ob das jetzt nur eine unglückliche Wortwahl war, oder tatsächlich so drastisch gemeint war, wie es da steht. „Erradicate“ ist ja nun gerade in dem Bezug ein sehr aussagekräftiges Wort.

    Wenn wir mal davon ausgehen, dass es nicht böse gemeint war, sind die Gegentweets teilweise auch etwas fragwürdig. So gut ich glaube Leute wie Artur Ortega verstehen zu können, für so fragwürdig halte ich seine Aussage, dass er seine Blindheit gar nicht ändern wollen würde. Denn all die Innovation die du hier ansprichst, kam daher, dass Leute ihre Situation ändern und verbessern wollten. Und wo wäre z.B. ich selbst, wenn es keine Brillen gäbe? Dann würde ich wohl auch in die vielleicht unglücklich betitelte Kategorie Schwerstbehinderter fallen und könnte viele Dinge nicht tun, die ich gerne tue.

    Das Problem hier ist einfach, dass sich hier Ideologie und Wunsch zur Verbesserung überlagern. Ich glaube – im besten Glauben an das Gute im Menschen -, dass dort keiner „kaputte Menschen“ reparieren will, sondern Menschen mit bestimmten körperlichen Defiziten (verglichen mit der Masse an Menschen) weitere Möglichkeiten geben will.

    Das einzige Problem dabei ist eventuell die Kommunikation des ganzen. Darauf aber mit Trotz zu reagieren bringt uns alle aber auch nicht weiter.

  2. Andreas sagt:

    Eins möchte ich vielleicht gerade noch loswerden, nicht das mein Eintrag falsch rüberkommt: Ignoranz muss natürlich weiter bekämpft werden.

    Es muss in den Köpfen der Menschen ankommen, dass nicht jeder Behinderte mit seinem Leben unzufrieden ist. Durch meinen seit seiner Geburt körperlich und geistig behinderten Bruder und all den Menschen mit denen ich dadurch in Berührung komme und gekommen bin, ist mir sehr klar, dass dies sicher nicht der Fall ist.

    Es müssen eben alle Menschen darauf achten, das dem Gegenüber nicht Unrecht getan wird. Solche Aussagen wie die des Ursprungstweets sind, egal wie gut sie gemeint sind, unter aller Sau. Die Antworten dazu aber eben auch teils sehr fragwürdig.

  3. F. M. sagt:

    Schon schlimm genug, dass die teuflische WHO die Pocken ausgerottet hat. Jetzt soll noch viel mehr Leid und Elend erradiziert … ich wage nicht zu denken, wohin das alles führen wird. Niemand wird mehr beten weil: Not lehrt beten!

  4. Christiane sagt:

    Pocken ist eine Krankheit, keine Behinderung. Behinderung bedeutet nicht Leid und Elend. Solch eine Gleichsetzung nennt man Ableism: http://en.wikipedia.org/wiki/Ableism

  5. F. M. sagt:

    Pocken bedeutet Not, Leid und Elend. Behinderungen sind auch nicht die reine Freude. Deswegen die Analogie.

  6. Christiane sagt:

    Ich sehe keine Analogie. Ich empfinde keine Not, ich leide nicht und ich empfinde auch kein Elend. Und ich wage zu behaupten, den antwortenden behinderten Twitterern geht es ebenso.