Sehen, Hören, Gehen, Fliegen

Ich habe den Barrierekompass früher gerne gelesen. Aber in letzter Zeit habe ich immer öfter das Gefühl, dass es besser wäre, die Seite nicht mehr zu besuchen. Ich ärgere mich zu sehr. Nämlich über das defizitorientierte Bild behinderter Menschen, das da verbreitet wird.

Erst wird das Cochlea Implantat hochgejubelt, heute lese ich, dass sich die Blinden auf ein Retina Implantat freuen dürfen. Nichts neues. Aber wahrscheinlich laufen die Forschungsprojekte gerade wieder aus. Da muss man eben Klappern für sein Handwerk. Nur die bösen behinderten Menschen wollen einfach die Technik nicht akzeptieren, die die Damen und Herren Forscher sich so für sie ausdenken.

Solch ein defizitorientierter Blickwinkel hat wenig mit Barrierefreiheit zu tun. Die beginnt nämlich im Kopf. Man kommt sich ziemlich „reparaturbedürftig“ vor, wenn man die Lobeshymnen auf die Forschergilde liest. Ständig werden neue Techniken präsentiert, die angeblich das Sehen, Hören, Gehen ermöglichen. Gut, nicht so richtig. Und auch erst in 10 Jahren. Aber immerhin. Die Behinderten dürfen sich freuen!

Aber wer mit Barrierefreiheit auf Dauer punkten (und Geld verdienen) will, muss das soziale Modell von Behinderung verstanden und verinnerlicht haben. Nicht die Behinderung ist das Problem. Die Umgebung. Die fehlende Barrierefreiheit. Die Barrieren in den Köpfen. Das medizinische Bild von Behinderung geht von einem Defizit aus, das entfernt werden muss. Waghalsige Heilsversprechen dank moderner Technik leisten dem Vorschub. Ich kann es einfach nicht mehr hören. Mit dieser Einstellung hält man behinderte Menschen wenig selbstbewusst und klein. Ihr müsst alle nur warten, bis ihr wieder sehen, hören, laufen könnt. Dann müssen wir uns auch nicht mehr um die Barrierefreiheit kümmern. Es ist völlig falsch zu glauben, Behinderung und Krankheit seien ausrottbar. Und längst nicht alle behinderten Menschen sitzen zu Hause und warten auf die „Heilung“. Hinzu kommt, dass die meisten Heilsversprechen bislang nicht eingelöst wurden . Sie erfüllen derzeit nur einen Zweck: Sie verkünden die Botschaft „Behindert sein ist schrecklich“.

Und weil ich mich über das Bild behinderter Menschen in den klassischen Medien schon genug ärgere, das ständig impliziert, mit mir und allen anderen behinderten Menschen wäre etwas nicht in Ordnung, verzichte ich jetzt wenigstens auf den Inhalt, den ich mir per RSS ins Haus hole und der mir allwissend mitteilt, dass ich bald gehen, mein Lebensgefährte bald sehen und mein Freund bald hören kann. Ich wäre schon froh, wenn einige Menschen mehr nachdenken würden. Aber das dauert vielleicht auch „fünf, zehn oder fünfzehn Jahre“.

7 Kommentare

  1. Ich verstehe nicht ganz, inwiefern sich die Implantate für Augen und Ohren von etwa einem Rollstuhl unterscheiden. Technische Hilfen sind es alle drei. Dass es eine Behinderung auch von der Gesellschaft ausgeht, ist klar, aber eine alleinige Reduktion darauf? Oder verstehe ich da etwas falsch?

  2. Christiane sagt:

    @Malte
    Ich störe mich daran, dass falsche Versprechen gemacht werden. Dass ständig impliziert wird, die Behinderung muss weg. Und das, obwohl weder CI noch RI die Behinderung entfernen. Beim RI kommt noch dazu, dass ein fertiges Produkt seit Jahrzehnten auf sich warten lässt, aber ich ständig lese, es kommt. Was soll das? Es führt dazu, dass sich blinde Menschen fragen lassen müssen, warum sie noch kein RI haben. Bei gehörlosen Leuten ist es noch schlimmer. Eltern gehörloser Kinder können sich dem CI kaum entziehen. Es gibt es bereits. Es wird ein massiver Druck ausgeübt, das Kind operieren zu lassen. Von Entscheidungsfreiheit der Eltern kann kaum noch die Rede sein. Dass aber weder das CI noch das RI aus einem gehörlosen Menschen einen Hörenden und aus einem Blinden einen Sehenden machen. Davon lese ich nichts. Es schreiben alle von der Heilung und das Übel, das entfernt werden muss.

    Ich bin in einer barrierefreien Umgebung nicht behindert. Meine Behinderung schränkt mich ansich nicht ein. Das Gefühl habe ich. Und selbst jemand der auf Assistenz angewiesen ist, ist weit weniger behindert, wenn die Assistenz gesichert und gut organisiert ist. Und auch mit RI, CI und anderen Techniken wird es immer behinderte Menschen geben – so lange wir keine barrierefreie Umgebung schaffen.

    Ich weiß, dass sich unsere Gesellschaft schwer tut, solch ein Modell von Behinderung zu akzeptieren. Dafür hat das Thema Behinderung viel zu sehr einen Fürsorgecharakter. Ich bin aber der Meinung, dass es um Bürgerrechte geht, nicht um Almosen und Heilung.

  3. @Christiane: Ich stimme dir voll zu. Im Wahlblog läuft gerade eine Debatte zur Biomedizin. Ich habe dazu einen Kommentar geschrieben, der dieses Bild von Behinderung aufgreift. Zufall, dass das hier so gleichzeitig passiert.:-)

  4. Es ist schade, dass der Barrierekompass als defizitorientiert dargestellt wird, denn auch wenn es vielleicht Einzelfälle gibt, wie CI oder RI, über die man trefflich und ausgiebig diskutieren kann, so gibt es doch ein Gesamtbild, das sich über viele Artikel erstreckt und ein vielschichtigeres Weltbild zeichnet.

    Noch sind die beschriebenen Implantate nicht ausgereift, aber eines haben sie doch mit anderen Hilfsmitteln gemeinsam: sie werden stetig weiterentwickelt, verbessert und den aktuellsten Entwicklungen angepasst. Wann ist ein Hilfsmittel also ein gutes Hilfsmittel, wo wären wir ohne Herzschrittmacher, künstliche Hüftgelenke und dergleichen?

    Das sind die Fragen, die hinter solchen Artikeln stehen. Parallel dazu betreiben wir aber auch eines der größten und umfangreichsten Hilfsmittel-Verzeichnisse, bilden also die Gegenwart ab. Müssen wir deshalb verschweigen, was die Zukunft bringen kann und vielleicht bringen wird?

    Deshalb an dieser Stelle die herzliche Einladung von uns, einen reflektierenden Artikel zum Pro und Contra dieser Diskussionen aus einem anderen Blickwinkel zu beleuchten. Denn eines möchten wir sicherlich nicht: Vorurteile aufbauen oder gar bestätigen.

  5. Christiane sagt:

    @Ansgar
    Ich habe schon alles gesagt zu dem Thema. Es geht nicht darum, Hilfsmittel zu verteufeln. Aber ich wehre mich dagegen, dass behinderte Menschen ständig als „verbesserungsbedürftig“ dargestellt werden. „Blinden Menschen rudimentär Sehkraft zurückgeben“ schreibt der Autor in dem Beitrag. Wem etwas zurückgegeben werden muss, dem hat vorher was gefehlt. Oder? Das soll nicht defizitiorientiert sein?

  6. @Christiane
    Ich bin etwas ratlos, vielleicht auch etwas ahnungslos. Deshalb die Frage an Dich bzw. alle hier, ob es eine Sprachregelung gibt, die mir sagt, wie ich über das Thema CI oder RI berichten kann, ohne gleich dem Ruf anheim zu fallen, behinderte Menschen als defizitär zu sehen.

    Daher noch einmal die herzliche Einladung, einen Artikel im Barrierekompass zu veröffentlichen und damit eine Sichtweise darzustellen, die dort vielleicht bisher fehlt.

  7. lunula sagt:

    Problematisch finde ich wie Christiane nicht, dass überhaupt geforscht und über diese Forschung berichtet wird, sondern dass (wohl im Interesse höherer Forschungsgelder) das Bild erzeugt wird, alles sei „reparierbar“ (übrigens kann man laut diesen Leuten bald auch Krebs heilen, Querschnittlähmungen rückgängig machen und Gliedmaßen nachzüchten ;-)). Das erzeugt nicht nur das Bild „Behinderung ist ein Defizit“, sondern auch das Bild „Wer _noch_ eine Behinderung hat, ist selber schuld, weil er zuwenig dagegen unternommen hat“. Jede Person mit einer Behinderung kennt diese Leute, die meinen „Aber ich habe doch neulich gelesen, da kann man jetzt was operieren“. Es NERVT.
    „Hauptsache gesund“ ist so in den Köpfen der Leute drin, dass sie sich gar nicht vorstellen können, warum eine „kranke“ Person nicht Tag und Nacht an ihrer „Heilung“ arbeitet, sondern lieber das Leben genießt, ihren Job macht und Spaß hat. Das, was für uns behinderte Menschen Lebensqualität ausmacht, wird dann von manchen Leuten als Resignation interpretiert.