Riskante Mobilität

Heiko Kunert hat in seinem Blog über die Risiken der Mobilität für behinderte Menschen geschrieben. Eine 64-jährige sehbehinderte Frau in Brandenburg wurde von einem Bus erfasst starb kurz darauf. Im Juni verwechselte eine blinde Münchenerin den Raum zwischen den U-Bahn-Waggons mit der Tür. Der Fahrer bemerkte nichts und fuhr los. Die 28-Jährige war sofort tot. Und in der vergangenen Woche fiel ein 30-jähriger Hamburger auf die U-Bahn-Gleise in der Station Lutterothstraße.

Ich hatte schon seit letzter Woche vor, etwas zu dem Thema zu schreiben. Ich war hier im Einkaufszentrum in Canary Wharf als es einen Feueralarm mit sofortiger Evakuierung des ganzen Zentrums gab. Das Einkaufszentrum liegt unterhalb der Erde. Der Fluchtweg führte also nach oben. Natürlich gehen, wenn es brennt, keine Fahrstühle. Es gehen auch keine Rolltreppen, wie ich jetzt weiß. Es ist nichts passiert, ich habe nicht einmal Rauch gerochen, aber mir war ziemlich schnell klar, dass ich keine gute Chance habe, wenn es wirklich brennt. Auch wenn nur ein Stockwerk zu überwinden ist. Die Menschenmassen waren so groß, ich hätte nicht mal auf dem Hintern nach oben rutschen können. Die hätten mich totgetreten.

Es gab sogar einen Sammelpunkt für Rollstuhlfahrer. Wir „versammelten“ uns zu viert, hatten aber alle nicht das Gefühl, dass unsere Rettung bald bevorstehen würde. Wir waren mehr oder weniger „geparkt“ und aus dem Fluchtweg für die anderen Leute.

Soll ich das jetzt beklagen? Was würde das bringen? Tatsache ist, das Lebensrisiko von vielen behinderten Menschen ist sicherlich höher und man muss es nicht unnötig provozieren. Aber man kann doch auch nicht jeden Tag an irgendwelche Sicherheitsprobleme denken. Ich könnte nicht einmal mehr einkaufen gehen – jedenfalls nicht mehr oberhalb oder unterhalb des Erdgeschosses. Und auch ein blinder Mensch will morgens mit der U-Bahn zur Arbeit fahren und abends in die Kneipe. Das ist es, was Mobilität und Unabhängigkeit bedeutet.

Ich denke, man muss mit einer guten Portion Realismus rangehen. Ich erwarte natürlich, dass die Feuerwehr alles tut, um mich zu retten, aber ich weiß auch, dass es ungleich schwerer ist. Bleibe ich deshalb zu Hause? Nein.

8 Kommentare

  1. Simulantin sagt:

    Ein gewisses Risiko hat jeder.
    Bei behinderten ist das Risiko etwas höher!
    Aber ich gehe das Risiko auch trotzdem ein.

  2. Armin sagt:

    Zuhause ist es aber auch nicht unbedingt sicherer. Irgendwo habe ich mal gelesen dass die meisten toedlichen Unfalle im Haushalt passieren. Leute die beim Fensterputzen aus dem Fenster fallen, in der Badewanne ausrutschen und aehnliche Sachen halt.

  3. klaus hinkelmann sagt:

    die diskussion ‚was tun als rollifahrer, wenn im brandfall der aufzug nicht zu benutzen ist‘ kann einem schon angst machen. und wenn die rolltreppen dann auch nicht fahren, noch mehr. nützt bloß nix. (s.o. andere)

    die liste der unfälle lässt sich verlängern. was ich so schlimm finde: dass manche so vermeidbar erscheinen, weil offenbar niemand rechtzeitig einschreitet, z.b. die blinde frau in münchen angesprochen hat: darf ich sie zur zugtür führen. abgesehen davon, dass der fahrer nichts gemerkt hat (wozu sind die kameras denn gut?).

  4. Thomas sagt:

    Neulich war ich in der DB Lounge im Bahnhof in Mannheim. Als da der Feueralarm losging, wusste auch keiner was jetzt mit mir passieren soll. Zumindest waren aber drei Leute von der Bahn und einer vom Sicherheitsdienst da. Die hätten mich dann notfalls runtergetragen, war aber kein Feuer…

    Wenn mir das wieder passiert, werde ich zuerst schauen, ob ich jemanden „Offiziellen“ finde und darauf bestehen, dass er jemanden von der Feuerwehr herholt. Wenn ich niemanden finde, rufe ich 112 an und gebe per Telefon meine Daten durch. Die werden schon irgendwie einen Kontakt zur Feuerwehr herstellen können.

  5. Armin sagt:

    Ich weiss nicht genau wie die Dinger funktionieren und daher nicht ob man damit auch eine Treppe hoch kommt (da es hier nur nach unten geht zu den Ausgaengen stellt sich die Frage nicht), aber bei mir im Buero hier sind in den Treppenhaeusern „Evakuierungsstuehle“ (Evac Chair). Soweit aus der Grafik darauf ersichtlich kann man damit einen Menschen eine Treppe „herunterrollen bzw -rutschen“. Vielleicht sollte sowas in oeffentlichen Gebaeuden Standard sein?

  6. Dorothea sagt:

    Städte bzw. Firmen noch „zusätzlich“ Geld für sog. „Behinderte“ ausgeben? Erstere bauen doch so schnucklig „behindertengerecht“ in Vororten und Ghettos, zweitere suchen sich dann doch lieber Nicht“behinderte“ als Personal.

    Als Nachrüstung wahrscheinlich nicht zu machen – weswegen es ja unverzichtbar ist, vernünftige und umfassende STANDARDS für Barrierefreiheit zu verankern, wo von VORNHEREIN Zugänglichkeit auch im Notfall für ALLE gesichert sein muss – auch in Kinos ;-).

    Ansonsten wird es ständig das „Kosten“-Argument setzen, die geringe Anzahl sog. „Behinderter“ und die achsoschöne AusSONDERungswelt incl. „Pfleger“, Bevollmächtigte und Ghettos.

  7. Ines sagt:

    Mobilität ist mit Sicherheit für jeden (auch) riskant.
    Natürlich kann man sich Meldungen rauspicken in denen es Behinderte trifft, aber Nichtbehinderte sind keinesfalls besser dran.
    Leute die in den Spalt zwischen Tür und Bahnsteig rutschen,angeleinte Hunde die kurz vorm Türenschließen aus der Bahn springen, Radfahrer, die in den Schienen der Straßenbahn hängen bleiben, Fahrgäste die sich im Bus nicht richtig festhalten…
    Solche Meldungen gibt es immer wieder.
    So ziemlich alle Unfälle könnten vermieden werden, wenn…ja wenn die Leute mal ihr Hirn einschalten.

    Ich hatte mich vor eriniger Zeit mal über Rettungsmaßnahmen im U-Bahn-Brandfall mit einer Rollifahrerin unterhalten und die meinte selber, das sie wohl in so einem Fall -realistisch betrachtet- nicht mit ihrer Rettung rechnen kann.

  8. Franziska sagt:

    @Armin: Bei meinem früheren Arbeitgeber hatten wir so einen Evac-Chair, denn unsere Büros lagen im 2. Stock und eine unserer Sekretärinnen saß im Rolli. Wir haben das einmal jährlich geübt, und es hat eigentlich ganz gut funktioniert. Allein schafft man das aber kaum, wenn ein Gewichtsunterschied besteht, und bei einer steilen Treppe braucht man ganz schön Überwindung. Grundsätzlich ist der Stuhl eine gute Idee, aber ich glaube, treppauf kann man das getrost vergessen…