Kalifornien und die Barrierefreiheit – Europa holt auf

Die USA gelten in Bezug auf Barrierefreiheit als eines der fortschrittlichsten Länder der Welt. Unter den US-Bundesstaaten wiederum ist Kalifornien einer der führenden Staaten. Nach einer Woche in Kalifornien muss ich aber sagen: Europa holt auf! Und das hat auch mit der Wirtschaftskrise zu tun.
Ich war ein paar Tage in San Francisco und habe die Stadt kaum wieder erkannt: Ich war vor ein paar Jahren zuletzt da als ich noch in Deutschland lebte und war damals ziemlich beeindruckt. Tausende elektrische Türöffner, Fahrstühle, abgeflachte Bordsteine, Brailletasten in den Fahrstühlen. Aber offensichtlich geht den Amerikanern das Geld aus, um die Sachen auch in Schuß zu halten: Tausende elektrische Türöffner – aber keiner geht. Zwei U-Bahnstationen waren für mich unbenutzbar, weil die Fahrstühle nicht gingen. Immerhin – man wird wenigstens bereits am Flughafen darauf hingewiesen, aber letztendlich hilft einem das auch nicht, zum Ziel zu kommen.
Kein einziger Fahrstuhl, den ich in den letzten sieben Tagen benutzt habe, hatte eine funktionstüchtige Sprachausgabe. Es gibt in Großbritannien so gut wie keinen Lift mehr, der keine hat… Ich musste mich erst wieder umstellen, nach der Anzeigetafel zu suchen, um zu sehen, wo ich bin.
Bedingt durch die Wirtschaftskrise und die schlechte Haushaltslage Kaliforniens werden offensichtlichlich die Straßen auch nicht mehr so gepflegt. Die einst super gebauten Rampen bröckeln in San Francisco vor sich hin. Im Sillicon Valley gibt es aber wohl noch Geld. Hier sieht es besser aus.
Die Lifte in San Francisco rochen genau so wie die in Frankfurt – nach Urin. Früher gab es überall Security, die aufgepasst hat, dass sowas nicht passiert – jetzt sind sie eingespart.
Vorgestern war ich in einem Einkaufszentrum in Palo Alto und hatte prompt einen Strafzettel über 300 Dollar wegen Parken auf einem Behindertenparkplatz an der Scheibe. Ja witzig, ich weiß. Und ja, ich hatte den Parkausweis im Auto liegen. Die USA sind assoziiertes Mitglied der Kommission für die europäischen Parkausweise und erkennen diesen (mit wenigen Ausnahmen) an, wenn er in einem Touristenauto liegt. Ich nutze den europäischen (früher deutschen) Parkausweis seit 1996 in den USA und hatte nie ein Problem. Hinzu kommt, mein Auto ist als Hertz-Mietwagen zu erkennen und hat Handgas, was ebenfalls von außen zu sehen ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass hier jemand unbegründet auf dem Behindertenparkplatz steht, war somit relativ gering.
Am gleichen Abend traf ich mich mit einer Rollstuhlfahrerin aus Mountain View, die mir sagte „Palo Alto sucks„. Die versuchten so ihren Haushalt aufzubessern. Sei ihr auch schon passiert. Sie würden es halt versuchen. Dem Einspruch würde sofort stattgegeben. Ich solle zum Rathaus fahren.
Ich habe mich dann also auf das Rathaus der Stadt Palo Alto bemüht. Behördengänge im Ausland finde ich immer besonders „toll“ – vor allem wenn man so einen unnötigen Mist erledigen muss. Und tatsächlich, die nette Dame empfang mich als sei ich schon Rollstuhlfahrerin 375 an diesem Tag, die mit dem gleichen Anliegen auftaucht, schob mir ein Formular rüber, das ganze fünf Zeilen Platz für die Widerspruchsbegründung hatte und sagte, ich bekäme in drei Wochen einen Bescheid nach England geschickt. Achja, und dann fragte sie mich noch, wo genau Amsterdam in Deutschland liegt, was ich ihr freundlich beantwortet habe.
Zum Rathaus kam ich übrigens auch nicht ohne Probleme. Es gab keinen Behindertenparkplatz – man will es ja den Leuten nicht zu einfach machen mit dem Widerspruch – und das Rathaus war sehr groß, aber nur von einer Seite zugänglich. Also einmal um den ganzen Block rum in drückender Mittagshitze. Willkommen im barrierefreien Kalifornien!
Wir haben unterdessen mit mehreren behinderten Kaliforniern gesprochen, die alle sagten, die Barrierefreiheit sei sehr lückenhaft umgesetzt. Vor allem im Arbeitsbereich. An manchen Stellen ist man baff, was alles gemacht wurde. Dann wiederum sieht man die Shuttlebusse von großen Firmen, die für Rollstuhlfahrer nicht benutzbar sind, aber eigentlich ein wichtiges Transportmittel für die Mitarbeiter im Silicon Valley sind. Ich kenne diverse vergleichbare Mitarbeitershuttle in Deutschland und in England von großen Firmen. Alle konnte ich nutzen.
Die USA muss sich anstrengen, wenn sie nicht hinter Europa zurückfallen will, was Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen angeht.

14 Kommentare

  1. Nicolai sagt:

    Schade, das zu hören.
    Das Knöllchen ist besonders unverschämt.

    Aber das kommt in Europa auch noch, warte nur ab. Die Krise kommt hierher und alles was gegen Sie unternommen wurde war nur ein weiterer Schuss für den Junkie. Gott, was freue ich mich auf das nächste mal Cold Turkey…

  2. Dorothea sagt:

    Da zeigt sich, dass nicht nur der Abbau von Barrieren als Baulichkeiten wichtig ist, sondern auch die politische Verankerung von Barrierefreiheit als Menschenrecht.

    Ansonsten wird nämlich gerne mal bei den sogenannten „Schwächsten“ gespart – Kindern, Rentnern, Arbeitslosen und sogenannten „Behinderten“.

  3. Markus Ladstätter sagt:

    Es ist schön bzw. schlecht welche Erfahrungen du machst, allerdings finde ich den Beitrag zu sehr verallgemeinernd.

    Palo Alto / San Francisco sind nicht die USA, und England / Deutschland nicht Europa, sondern jeweils nur Teile davon.

    Mir fielen auf Anhieb in sehr vielen Ländern sowohl gute wie auch schlechte Beispiele ein. Dass die Wirtschaftskrise nun Kalifornien auch besonders hart trifft, und massive Einsparungen (nicht nur in diesem „Sektor“) stattfinden, ist nicht verwunderlich.

    Sehr schön passt hier auch die Dokumentation des History Channels „The Crumbling of America“, die dass schrittweise kollabieren der Infrastruktur darstellt.

  4. Zumindest in Berlin klappt das mit dem Aufholen offenbar nicht. Dort kriegen es BVG und Bahn nicht gebacken, daß die Aufzüge an den Stationen regelmäßig und zuverlässig funktionieren. Und wenn sie funktionieren, kann es bei starkem Andrang passieren, daß selbst bei vorhandenem Wachpersonal niemand dafür sorgt, daß Rollstuhlfahrer (oder andere, die darauf angewiesen sind), die Aufzüge benutzen können und nicht weggedrängt werden (so geschehen an letztem Silvester an der Friedrichstraße).

    Spitze war auch diesen Monat ein Bahn-Angestellter (Beamter?) an einem „Service-Point“ in Berlin, der dann einfach meinte, „kann ich nix machen“. Der hätte meinen rollstuhlfahrenden Begleiter einfach sitzen gelassen:
    http://blog.atari-frosch.de/2009/09/06/und-wieder-spass-mit-einem-fahrstuhl/

    Wie es aussieht, schaffen wir keinen Berlin-Besuch mehr ohne defekte Aufzüge. Auch da wird „gespart“.

    Gruß, Frosch

  5. Tux2000 sagt:

    In Hamburg „löst“ man das Problem mit wartungsbedürftigen Aufzügen sehr einfach: Es gibt sie an vielen U- und S-Bahn-Stationen, besonders außerhalb der Innenstadt, schlicht und ergreifend nicht!

    Die Hochbahn heißt nicht umsonst Hochbahn, oft fährt die Bahn ein paar Meter über dem Boden, in Höhe des ersten oder zweiten Obergeschosses. Oft gibt es nur Steintreppen, manchmal noch eine nur aufwärts laufende Rolltreppe. Das behindert nicht nur Rolli-Fahrer und gebrechliche ältere Leute, auch mit Kinderwagen stehen die Leute öfters mal ziemlich ratlos vor den Treppen und warten auf eine helfende Hand.

    Seit meiner Knieverletzung bin ich jeden Tag froh, wieder gut zu Fuß zu sein. Die nächstgelegene U-Bahn-Station hat zwar eine aufwärts führende Rolltreppe, aber abwärts geht es nur über eine Steintreppe. Die nächste uneingeschränkt rollstuhltaugliche U-Bahn-Station liegt über 3 km weit weg, die könnte ich nur mit dem Bus erreichen. Immerhin haben alle Busse eine Rolli-Rampe. Zwischen den beiden U-Bahn-Stationen liegt eine weitere Station, an der der Bus schon viel früher ankommt. Nur liegt die ungefähr fünf Meter über der Straße und hat weder Rolltreppe noch Fahrstuhl. Wer nicht Treppen steigen kann, hat dort verloren.

    Tux2000

  6. Die öffentliche Hand sollte schon längst auf Barrierefreiheit ihre Bauten und Anlagen umgestellt haben, aber sehr schleppend. Die USA wird uns noch überholen **SCHADE** für uns, gut für die Amis

  7. Andy sagt:

    Ich kann da von Stuttgart nur ein Lied singen. Wer Stuttgart kennt der dürfet auch wissen, dass es in dem Tal kessel ziemlich Hüglig zugeht und es gibt in Sachen Berrierefreiheit noch viel Nachholbedarf.

  8. Mela sagt:

    Wenn da schon die Bordsteinkanten bröckeln, muss das aber beinahe schon länger im Argen liegen als nur seit der Wirtschaftskrise. Sooo alt ist die noch nicht und Bordsteine sind eigentlich recht robust.. wenn man nicht gerade mit einem Kettenpanzer Amok fährt.

  9. Christiane sagt:

    @Mela
    Ich glaube, es liegt auch an der Witterung. Die Hitze hier ist wahrscheinlich ähnlich schädlich für den Beton wie Frost. Und manchen Rampen sieht man an, dass sie nicht vom Spitzenbauarbeiter gebaut wurden… Tatsache ist, es müsste JETZT repariert werden, wird es aber nicht.

  10. arnold sagt:

    also barrierefreiheit wäre wirklich eine erleichterung, gerade für gebehinderte leute. aber andererseites, wenn es z.b. schon rolltreppen gibt, sind diese ja auch nur größtenteils defekt.

  11. Max sagt:

    auch London spart in Zukunft noch mehr an der Barrierefreiheit: Laut diesem Artikel http://www.thisislondon.co.uk/standard/article-23756905-huge-fare-rises-and-pound-10-c-charge.do „Plans to install step-free access at six Tube stations have been scrapped.“

  12. Nadja sagt:

    Wie überall wird auch hier auf Kosten der „Kleinen“ gespart. Da, wo man erwartet, dass sich keiner so leicht wehren kann. Fußvolk ist sowieso nur „Stimmvieh“ bei Wahlen und rollstuhlfahrende Behinderte sind ja für die Politiker nicht einmal Fußvolk. Entschuldigung, ich bin selbst behindert, das ist also überhaupt kein persönlicher Angriff. Ich fürchte, die Politiker und durchführenden Organe sehen das so. Gespart wird – wie immer am falschen Ende. Hauptsache es reicht für die Managergehälter. Und der Strafzettel ist der Oberhammer. Wie oft beobachte ich hier in Deutschland, dass Nicht-Behinderte die Behinderten-Parkplätze schamlos blockieren. Oft gibt es auch gar keine. Wer mit offenen Augen durch die Welt geht – egal ob in den Staaten oder in Deutschland – der müsste doch auf heruntergekommene Rampen, defekte Rollstühle, fehlende Behindertenparkplätze und Ausweise in Behindertenfahrzeugen achten können, oder? Und entsprechend reagieren.

  13. nessa sagt:

    Das ist eine absolute Frechheit in Krisenzeiten bei den sowieso schon „Benachteiligten“ zu sparen!!!
    Manchmal habe ich das Gefühl, dass unsere Entscheidungsträger die Tragweite ihrer Entscheidungen garnicht verstehen. Zumindest nicht verstehen, was das für benachteiligte Menschen in der Realität heisst!!!