Der Koalitionsvertrag und die Behindertenpolitik

So, der Koalitionsvertrag der neuen Regierung in Deutschland ist da. In Teil III gibt es sogar ein eigenes Kapitel einen eigenen Absatz zur künftigen Behindertenpolitik. Dieses lautet:

„Wir treten für eine tatsächliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben ein. Unser Ziel ist, die Rahmenbedingungen für Menschen mit und ohne Behinderungen positiv zu gestalten. Voraussetzung hierfür ist u. a. die Barrierefreiheit in allen Bereichen von Schule über Ausbildung bis zum Beruf sowie von Verkehr über Medien und Kommunikationstechnik bis hin zum Städtebau. Politische Entscheidungen, die Menschen mit Behinderungen direkt oder indirekt betreffen, müssen sich an den Inhalten der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen messen lassen. Deshalb werden wir einen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen entwickeln.
Wir wollen, dass ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen länger und lebenswerter in ihrem gewohnten Umfeld wohnen können. Das KfW-Förderprogramm zur Versorgung mit altersgerechtem Wohnraum wird weiterentwickelt.“

Das könnte auch im Koalitionsprogramm einer Rot-Grünen Regierung stehen. Man könnte fast versucht sein zu glauben, in Deutschland wird jetzt alles barrierefrei. Ich bin keine Pessimistin, aber ich fürchte, das wird nicht so kommen.

Zuerst einmal hat man jetzt wieder Zeit gewonnen. Man wartet jetzt erst einmal auf den Aktionsplan. Vor dem Aktionsplan wird es keine oder nur sehr wenig Aktion geben. Ich tippe in der Mitte der Legislaturperiode wird er dann endlich fertig sein.

Und dann passiert wieder das, was fast immer passiert: Die Politik wird sich einigen, wenig umstrittenen und leicht umzusetzenden Themen annehmen. Große wichtige Dinge werden außen vor bleiben. Einen Rechtsanspruch wird es nur in Ausnahmefällen geben.

Ich habe vor kurzem mehrere interessante Videos auf YouTube gefunden, die die Proteste vor der Einführung eines umfassenden Antidiskriminierungsgesetzes für behinderte Menschen in Großbritannien zeigen.

So ging es vor der Einführung des Disability Discrimination Acts 1995 in London zu und vermutlich hat sich das im Gesetz niedergeschlagen:

P.S.: Kann mir jemand sagen, ob man Videos bei YouTube, die einem nicht gehören, untertiteln kann? Und wenn ja, wie? Ich würde das Video nämlich gerne untertiteln.

15 Kommentare

  1. bp sagt:

    Die Behindertenpolitik hat kein eigenes Kapitel im Koalitionsvertrag. Vielmehr kommt im Kapitel „Soziale Hilfe und Sozialversicherungen“ nach den Unterpunkten „ Arbeitslosenversicherung und Bundesagentur für Arbeit“, „Grundsicherung“ und „Weitere Sozialversicherungen“ am Ende auch der Unterpunkt „Menschen [sic!] mit Behinderungen“. Alleine in der Struktur wird deutlich welchen Stellenwert die Behindertenpolitik in der schwarz-gelben Koalition hat.

    Im Kapitel „Generationengerechte Finanzen / Haushalt“ ist eine goldene Regel: „Alle Maßnahmen des Koalitionsvertrages stehen unter Finanzierungsvorbehalt.“ Wenn tatsächlich weniger Geld da sein sollte als für alle Maßnahmen benötigt werden, dann müssen zwangsläufig wohl die Maßnahmen mit geringerem Stellenwert zurückgestellt werden.

    Sich an UN-Konventionen messen lassen zu wollen ist ehrenhaft, doch das selbst aufgestellte Kriterium „Barrierefreiheit in allen Bereichen“ ist ein viel einfacherer und praktischerer Maßstab:
    Gibt es Barrierefreiheit in allen Bereichen? Wenn nein: Wann sichert der Gesetzgeber Barrierefreiheit in allen Bereichen zu? An diesen Fragen – und nur an diesen Fragen – muss sich die Behindertenpolitik der schwarz-gelben Koalition fortlaufend messen lassen.

  2. MacSpi sagt:

    Bis 0:33 geschaut und schon mal festgestellt: in GB gibt es keine Briefwahl. Das in dem Video gelogen wird kann ja nicht sein.

    Und mal ganz ehrlich, wenn (so es nicht schon geschehen ist) die „Gleichberechtigung“ der Behinderten so weit wie vernünftig gediegen ist kommen doch, überspitzt gesagt, Forderungen wie: „Blinde zur Polizei, Rohlstuhlfahrer zu Feuerwehr und Gehörlose als Bademeister“.

    Denn wenn man was zu meckern hat dann hat der Tag Struktur.

  3. Christiane sagt:

    @MacSpi
    Es gibt in UK große Vorbehalte gegen die Briefwahl, was ich angesichts der Unzuverlässigkeit von Royal Mail auch verstehen kann. Das Briefwahlgesetz ist 2000 erst liberalisiert worden. Ich weiß nicht, wie es 1995 aussah. Es gibt da auch Unterschiede zwischen landesweiten und Gemeindewahlen und wiederum zwischen den Gemeinden.
    Übrigens wird auch in Deutschland das Recht, persönlich zur Wahlurne zu gehen, als wichtig erachtet. Es ist ein Bürgerrecht.

  4. MacSpi sagt:

    @Christiane

    „Many of us even can’t vote.“ Wenn man sein Wahlrecht wegen „Vorbehalten“ aufgeben möchte, nun gut, es ist ja ein _Recht_. In diesem Fall die eigene Behinderung vorzuschieben ist, sagen wir mal, populistisch.

    „Das Briefwahlgesetz ist 2000 erst liberalisiert worden. Ich weiß nicht, wie es 1995 aussah.“

    Dem kann abgeholfen werden (was man btw auch selber tun könnte):
    http://en.wikipedia.org/wiki/Postal_voting#United_Kingdom

    „Übrigens wird auch in Deutschland das Recht, persönlich zur Wahlurne zu gehen, als wichtig erachtet. Es ist ein Bürgerrecht.“

    Das aktive Wahlrecht ist im GG festgeschrieben, stimmt. Das dies direkt im Wahllokal zu erfolgen hat jedoch nicht.

  5. Christiane sagt:

    Sorry, aber damit weiß ich jetzt nicht, wie in jeder Gemeinde die Gemeindewahlen geregelt sind. Tatsache ist, dass jeder nichtbehinderte Bürger im Wahllokal wählt, sicher sein kann, dass die Stimme ankommt.
    Übrigens ist das unterdessen in UK kein Problem mehr. Das DDA schreibt barrierefreie Wahllokale vor. Und in Deutschland kann man sich zumindest einen Wahlschein ausstellen lassen, mit dem man in ein barrierefreies Wahllokal gehen kann. Habe ich früher so gemacht.

  6. Hella sagt:

    @MacSpi:
    Wahllokale sind sehr häufig Schulen, Ämter oder wohl gelegentlich auch Banken. Genau solche für die Öffentlichkeit gedachten Gebäude *sollten* auch für Behinderte zugänglich sein. Sind sie nur häufig nicht (meine letzten 2 Wahllokale jedenfalls nicht, beides Schulen).

    Warum Wahllokal?
    Wer im Wahllokal wählt, kann später besser verfolgen, wieviele Stimmen genau da für welche Partei abgegeben wurden. Jedem echten Demokraten kann ich auch empfehlen, mal als Wahlhelfer mitzuhelfen oder Urnenaufstellung + Auszählung beobachten. Beides Tätigkeiten, die von einem „Durchschnittsrollstuhlfahrer“ sicher auch machbar sind – wenn das Gebäude zugängig wäre.

    Nein ich bin nicht betroffen. Aber als Steuerzahler ist *mir* wichtig, dass alle an der Gesellschaft teilnehmen können (dafür zahle ich auch viel lieber als für irgendeinen Autobahnausbau oder Bankenstützungsplan oder …). Und ganz opportunistisch: Barrierefreiheit hilft ja auch, wenn man nur mal kurzfristig durch Sportverletzung oder viel Gepäck oder Kinderwagen „behindert“ wird.

  7. Ich bin immer wieder erschüttert über die Intoleranz sogenannter aufgeklärter Menschen. Von wegen Gehörlose als Bademeister und so was. Sollen das Totschlagargumente sein? Wenn man schon über die Ausübung des WAhlrechts debattieren muss, was ich schon einen Hammer finde, dann sollte man bitte auch dabei bleiben und nicht so unsachliches Zeug anführen.

    Natürlich haben Menschen mit Behinderungen das Recht, mitten in ihrer angestammten Gemeinde, mitten in ihrer Lebensumgebung, zu wählen, wie jeder andere, nichtbehinderte Mensch auch. Darüber sollte es doch wohl keine Debatte geben? Man fragt doch auch nicht, ob ältere Menschen, Bänker oder schwangere Frauen in einem Extrawahllokal wählen müssen oder Briefwahl machen müssen. Und bitte kein Kostenargument jetzt: Schwangerschaft kostet auch, ältere Menschen gehen nicht mehr arbeiten und liegen der Gesellschaft nach der Ansicht mancher Neoliberaler auch auf der Tasche, Bänker kosten uns jährlich Milliarden… – Eine Gesellschaft für Alle! Das sollte uns etwas wert sein!

    Wenn 10 Prozent der Bevölkerung in einem so wichtigen Dokument wie dem Koalitionsvertrag so abgespeist werden, ist das ein Hammer. Schaut mal nach, wieviel Seiten über Unternehmer geschrieben steht, die sind auch nicht mehr als 10 Prozent der Bevölkerung, zumindest die, die wichtig sind… – Sorry, aber ich verstehe nicht, wie man darüber überhaupt debattieren kann.

  8. Dorothea sagt:

    Ich empfehle übrigens auch sog. „behinderten“ DemokratInnen unbedingt die Zurverfügungstellung als WahlhelferInnen. Das geht ganz unproblematisch: meldet Euch bei der Partei Eures geringsten Mißtrauens oder beim Gemeindeamt. Dort wird die Adresse notiert und man kommt auf euch zurück. Barrierefreiheit wird bei der Zuweisung des Wahllokals berücksichtigt.

    Die Anwesenheit sog. „behinderter“ WahlhelferInnen bewirkt zweierlei: andere „behinderte“ Leute werden ermutigt, ebenfalls ihrem Wahlrecht nachzukommen (und das wehrt der Einstellung „für uns ist das doch nichts“) – andererseits zeigt es, dass auch sog. „Behinderte“ sich aktiv an der Demokratie beteiligen – und Aktive werden nicht so schnell an die Seite geschoben/“übersehen“ wie Passive.

    Werden wir eine sichtbare, hörbare und unumgehbare Größe!

    Dann kann die Wespenkoalition uns auch nicht weiter unter „Sozialgedöns“ subsummieren und zu bloßen WohltatenempfängerInnen erklären, die noch dankbar zu lächeln haben.

  9. MacSpi sagt:

    @Dorothea

    Nur komisch das viele Behinderte (zu recht) gar nicht Wahlhelfer werden können/dürfen (vgl Art. 33 Abs. 2).

  10. Dorothea sagt:

    @McSpi

    Wie meinst du das? Eignung und Befähigung … inwiefern schließt das RollstuhlfahrerInnen, RollatorenbenutzerInnen, Geh“behinderte“, Sprach“behinderte“, Seh“behinderte“ aus?

    „viele Behinderte“ in diesem Sinne kann eigentlich nur intellektuell nicht hinreichend Befähigte meinen.

    Inwiefern Gehörlose oder Blinde zur Wahlhelferei befähig sind, kann ich nicht beurteilen (sollte sich vielleicht mal eine Blinde oder Gehörlose hier im Blog äußern, inwiefern man das organisieren könnte). Aber alle anderen körperlich „Behinderten“ – wo bitte sind diese nicht „geeignet, fähig“ und an „fachlicher Leistung“ gehindert?

    Bin übrigens Rollstuhlfahrerin, Wahlhelferin und Kommunalpolitikerin – als eine der ganz wenigen sichtbar „Behinderten“ hier im Bezirk. Wäre gut, wenn andere nachkämen – EinzelkämpferInnen können nicht wirklich viel bewirken. Es gäbe genügend, die „geeignet, fähig und zu fachlicher Leistung“ auch in diesem Bereich in der Lage wären.

  11. Social comments and analytics for this post…

    This post was mentioned on Twitter by kandelaber: Der Koalitionsvertrag und die Behindertenpolitik http://bit.ly/2Ww51t (via feedly)…

  12. Arne sagt:

    Ich komme noch einmal auf den Koalitionsvertrag zurück:

    Es ist nicht gerade ehrenhaft, alle Vorhaben an der UN-Behindertenrechtskonvention messen zu lassen, denn diese Konvention ist seit 26.3.2009 unmittelbar geltendes deutsches Recht und muss(!) somit zwingend beachtet werden.

    Man sieht also: viele schön anmutende Worte für vermutlich wenig Weiterbringendes. Anders war es nicht zu erwarten, aber ich lasse mich gern eines besseren belehren.

  13. Wolf sagt:

    Die Schweiz hat gerade eine einzigartige Situation: unsere Invalidenversicherung hetzt mit einer Plakatekampagne gegen Behinderte. Das, weil die Funktionäre unter immensem öffentlichem Druck stehen. „Behinderte liegen uns nur auf der Tasche“. Auch die nachfolgende Kleberunde blieb beklemmend. Es tut weh, wenn man sieht, dass man im Grunde Gimpeln ausgeliefert ist. http://www.swisswuff.ch/tech/?p=235

  14. Fiona sagt:

    Das Video ist ja gut, aber habe eigentlich nicht verstanden…Gibt es überhaupt in GB Briefwahl…? Ich glaube nicht.