Archiv für Politik

1. April im Dezember

Also, ich musste gerade erst einmal auf dem Kalender schauen, um sicherzugehen, dass nicht der 1. April ist. Da bekomme ich eine Pressemitteilung von Transport for London (das sind die mit den etwas schwierigen Busfahrern), dass sie den „Independent Living Award“ gewonnen haben. Dann dachte ich, sie haben den Preis gewonnen, weil ihre Busfahrer tun und lassen können, was sie wollen – das ist ja auch irgendwie „Independent Living„. Aber nein, sie haben den Preis für ihre Arbeit bekommen, die öffentlichen Verkehrsmittel für alle Londoner barrierefrei zu machen. „We are impressed by the leadership and commitment Transport for London has shown„, lese ich da.

Also, ich bin jedes Mal beeindruckt, wenn ich mitgenommen werde, der Busfahrer ohne Murren die Rampe ausfährt, diese funktioniert und beim Aussteigen dies ebenfalls so gut geht. Ich bin deshalb beeindruckt, weil das ja nicht immer der Fall ist. Und ich wäre auch beeindruckt, wenn mal nur eine einzige U-Bahnstation in der Nähe der Oxford Street barrierefrei wäre.

London hat so viele Bereiche, die wirklich barrierefrei und vorbildlich sind. Aber die öffentlichen Verkehrsmittel gehören jetzt wirklich nicht dazu.

Sorry liebe Eltern

Sorry, liebe Eltern auf der Insel… Da ist doch den britischen Behörden ein ganz blödes Missgeschick passiert: Die Daten von allen Beziehern von Kindergeld hat man auf CDs gebrannt und per Post verschickt. Und jetzt sind die Datenträger weg.

Darauf waren die Daten von 25 Millionen Einwohnern, die Kindergeld beziehen. Gespeichert waren unter anderem die Namen, Adressen, Geburtstage, Sozialversicherungsnummern und Bankverbindungen. Damit kann man in diesem Land schon ziemlichen Schaden anrichten, denn es gibt hier ein riesen Problem mit Identitätsdiebstahl. Es gibt ja keine Meldepflicht und auch keine Personalausweise. Wer hier seine Identität nachweisen will, muss einfach eine Rechnung mit Adresse beibringen.

Viele Hotlines nehmen zum Beispiel das Geburtsdatum als Sicherheitsabfrage und die Briten schreddern ihre Post, wenn dort der vollständige Name samt Adresse draufsteht, bevor ein Brief in den Mülleimer wandert. Und weil es diese Angst vor Identitätsdiebstahl gibt, ist die Empörung jetzt natürlich groß. Warum verschickt die Behörde im Jahr 2007 noch CD-Roms? Als normalen Brief! Und mit Daten des halben Landes! Schuld sind, wie immer, die Junior-Mitarbeiter. Die Frage, warum ausgerechnet diese Zugang zu diesen Datenmengen haben, wird sicher in nächsten Tagen noch gestellt.

Free Burma


Free Burma!

50 Jahre Contergan

Am 1. Oktober 1957, kam Contergan in Deutschland auf den Markt, hergestellt von der Stollberger Firma Grünenthal. Es war ein Schlafmittel, das auch für Schwangere gut verträglich sein sollte. In der Folge kamen tausende Kinder mit Fehlbildungen und fehlenden Gließmaßen zur Welt.

Der Bund Contergangeschädigter und Grünenthalopfer (BCG) in Köln hat aus diesem Anlass eine Mahnwache vor den Werkstoren von Grünenthal veranstaltet und zu einem Boykott von Produkten von Grünenthal und seiner Tochterunternehmem aufgerufen. Es geht unter anderem um zu geringe Entschädigungsleistungen. Grünenthal zahlte damals über 100 Millionen Mark plus 10 Millionen Zinsen in eine Stiftung ein. Der deutsche Staat zahlte weitere 100 Millionen DM ein. Streitpunkt ist seit Jahrzehnten die geringen Rentenleistungen. Knapp über 500 Euro bekommt ein Contergangeschädigter maximal im Monat. Das deckt weder Pflegekosten noch sonstige Aufwendungen.

In den Leserbriefen bei Kobinet liefern sich derzeit Contergangeschädigte und Mitarbeiter von Grünenthal einen Schlagabtausch. Die Mitarbeiter fürchten um ihre Arbeitsplätze, wenn Grünenthal noch einmal zur Kasse gebeten würde und kritisieren den Boykottaufruf. Die Contergangeschädigten wollen selbstbestimmt leben, dafür reicht aber das Geld nicht. Und um die Gerechtigkeit geht es natürlich auch. Unterdessen zahlt der deutsche Steuerzahler nämlich die Renten, weil das Geld von Grünenthal längst aufgebraucht ist.

Ich kann die Empörung der Contergangeschädigten verstehen, auch wenn ich finde, dass sie bereits in den vergangenen Jahren besser ein wenig lauter gewesen wären. Ich finde den Vergleich, der damals ausgehandelt wurde, völlig realitätsfern. Niemand hat darüber nachgedacht, wie man die Pflege von jemandem ohne Arme und Beine dauerhaft finanzieren soll. Vieles wurde auf die unterdessen betagten Eltern abgewälzt. Wer einen Schaden verursacht, muss ihn auch wieder gut machen. Warum das bei Grünenthal nicht gilt, verstehe ich nicht. Mit Schaden meine ich in erster Linie, dass behinderungsbedingte Kosten übernommen werden. Es geht nicht darum, Milionen an Schmerzensgeld auszuzahlen, sondern einen wirklichen Nachteil auszugleichen.

Ich bin selber durch einen ärztlichen Kunstfehler querschnittgelähmt und mein Lebensstandard ist nur deshalb ein normaler, weil nicht auch noch die behinderungsbedingten Mehrkosten auf meinen Schultern lasten. Die Berufshaftpflichtversicherung des verursachenden Arztes tritt dafür ein. Um mal ein Beispiel zu nennen: Der Umbau meines Autos auf Handgas und Handbedienbremse hat fast 4000 Euro gekostet. Wäre ich contergangeschädigt hätte ich dafür in Deutschland unter Umständen keinen Kostenträger. Die Krankenkassen sind für sowas nicht zuständig. Teilweise zahlen die Arbeitsämter den Umbau, aber nur wenn man eine Arbeitsstelle hat. Nun ist die Beschäftigungsquote von Leuten mit derartigen Behinderungen aber eher bescheiden. Die Mehrheit hat also keinen Kostenträger. Und es gäbe noch viele andere Beispiele. Eine 24-Stunden-Assistenz, die jemand, der keine Beine und Arme hat, unter Umständen braucht, deckt die Pflegeversicherung nicht ab. Das Sozialamt springt ein und ich kenne mehrere Leute, die auf Hartz IV-Niveau runtergekürzt wurden, um die Pflegekosten zu decken (die Angehörigen auch gleich mit). Und da verstehe ich die Wut so mancher Leute auch nach 50 Jahren schon, wenn sie erahnen, wie die Bilanzen der Firma Grünenthal aussehen.

Die wenigsten wollen sich bereichern, sondern ein einigermaßen normales Leben führen, was mit 500 Euro nicht zu machen ist. Behindert sein ist teuer.

Die Tagesthemen haben vor ein paar Tagen eine Bericht zu Contergan gezeigt und dabei einen Mann ohne Arme porträtiert. Er ist Stellvertreter des Landrats und Paralympicsteilnehmer. „Ganz beeindruckend“, „toll wie er sein Leben meistert“ und andere Floskeln kamen schon in der Anmoderation vor. Sie haben auch erwähnt, dass es die Mahnwache vor dem Werksgelände gab. So ganz stimmig war der Teil der Sendung nicht. Und ganz fair war auch der Interviewte nicht. Er hat eher abfällig über die Leute geredet, die sich immer noch an Grünenthal reiben. Die Lebenssituation von Contergangeschädigten ist eben nicht homogen. Wer einen Arbeitsplatz hat und nicht auf Pflege angewiesen ist, den interessiert Grünenthal vielleicht nicht mehr. Ich interessiere mich auch nicht mehr für den Arzt wegen dem ich querschnittgelähmt bin – jedenfalls so lange nicht wie seine Versicherung meine behinderungsbedingten Kosten begleicht. Ich kann aber Leute verstehen, die sich alles vom Mund absparen müssen, für jeden Mist mit den Behörden und Krankenkassen diskutieren müssen und die wissen, der eigentliche Verursacher würde Hilfsmittel xy aus der Portokasse zahlen. Das würde mich wahrscheinlich auch bis an mein Lebensende an Werkstore treiben.

Streik

Nun wollen die deutschen Lokführer diese Woche also streiken. Damit haben sie mir prompt die Entscheidung abgenommen, ob ich zur Rehacare nach Düsseldorf fahre oder nicht. Mit dem Eurostar liegt das Rheinland von London aus ja fast um die Ecke, allerdings nur, wenn keiner streikt. Also bleibe ich hier und habe auch gleich eine Verabredung zum Abendessen angenommen.

Die Briten würden sich wahrscheinlich freuen, wenn nur ab und an mal ihre Lokführer streiken würden. Hier streikt ja ständig irgendwer. Ich wage zu behaupten, dass ich in Deutschland in den vergangenen 10 Jahren weniger Streiks erlebt habe als in England in den vergangenen 10 Monaten. Diese und nächste Woche streikt mal wieder die Post – vier Tage lang. Dann haben vor kurzem die U-Bahntechniker gestreikt. Da ging tagelang nichts mehr. Die U-Bahn nicht wegen des Streiks und Auto fahren auch nicht, weil alle auf das Auto umstiegen. Vergangene Woche haben die U-Bahnfahrer einiger Linien gestreikt, weil irgendwas mit den Sicherheitssystem der alten Züge nicht in Ordnung sein soll und das von den Verantwortlichen ignoriert wurde. Und es gibt wahrscheinlich noch viel mehr Streiks, die ich gar nicht mitbekommen habe.

Da weiß man es zu schätzen, wenn alle U-Bahnlinien benutzbar sind und jeden Tag ein Brief im Briefkasten liegt. Und zur Rehacare fahre ich dann vielleicht nächstes Jahr wieder.

Die Rundfunkgebühren und die Aktion Mensch

Seit die Aktion Mensch so heißt wie sie heißt und nicht mehr Aktion Sorgenkind, ist sie mehr und mehr zur Soziallotterie für alle Gruppen und nicht mehr nur für behinderte Menschen geworden. Kann ich mit leben, muss ich ehrlich sagen. Eine der aktuellen Kampagnen ist „Die Gesellschafter“-Kampagne. Sie behandelt nur noch wenig das Thema Behinderung, sondern geht der Frage „In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?“ nach. Zu der Kampagne gibt es ein Tagebuch, in dem jeden Tag eine andere Persönlichkeit das aktuelle Nachrichtengeschehen kommentiert.

Und was lese ich da heute? „ARD und ZDF bekommen Recht – so geht es nicht weiter!“ lautet die Überschrift zu einem Kommentar über die gesetzlichen Rundfunkgebühren. Der Autor schimpft auf die Öffentlich-Rechtlichen und stellt die Gebühren in Frage. Das muss ich sagen, liebe Aktion Mensch, ist journalistische Unabhängigkeit! Da kann sich ja der ein oder andere Verleger noch eine Scheibe abschneiden. Immerhin steht nicht zuletzt das ZDF hinter der Aktion Mensch, der Intendant ist ihr Vorsitzender. Der Text ist zwar inhaltlich etwas heikel, aber wenigstens hat der Autor die in Augen der GEZ richtige Wortwahl genutzt. Schade eigentlich. Ich musste bei dem Gedanken, dass die GEZ nach Akademie.de nun auch die ZDF-nahe Lotterie abmahnen könnte, ein wenig schmunzeln.

Wie ein Gesetz den Alltag verändert

Gestern abend haben wir ein neues Lokal ausprobiert. Es heißt „Café Rouge“ und ist eine Kette, die auf Französisch macht, aber sicher nicht ist. Aber der Laden war nett und ich wusste durch diverse Online-Bewertungen, das die Meinungen beim „Café Rouge“ weit auseinander gehen. Die Bedienung kam und hielt meinem Freund die Karte vor die Nase. Er reagierte nicht, weil er blind ist. Ich sagte ihr, „er ist blind, wir brauchen nur eine Karte.“ Ich hatte gerade angefangen, die Karte vorzulesen, da kam sie mit einer Karte in Braille an und fragte, ob wir diese haben möchten. Kann mir irgendjemand in Deutschland ein einziges Restaurant nennen, das eine Speisekarte in Braille hat und wo nicht der Stammtisch des örtlichen Blindenvereins stattfindet?

In England gibt es das in manchen Lokalen, weil Serviceeinrichtungen, Gaststätten etc. seit einigen Jahren verpflichtet sind, auch bei bestehenden Lokalen im zumutbaren Umfang bei der Barrierefreiheit nachzubessern. Für eine Kette wie „Café Rouge“ bedeutet das also, Karten in Braille vorzuhalten. Andere Lokale haben eine Stufe entfernt oder eine Rampe irgendwo hin gelegt. Im Gemeindeblatt der deutschen Kirchengemeinde (ja, gibts hier alles!) habe ich gelesen, dass sie verpflichtet wurden, ihre Kirche in naher Zukunft barrierefrei zu machen. Da stand dann auch was von gesetzlichen Auflagen und das die Behörde bereits da war. Das ist alles auf den Disability Discrimination Act zurückzuführen, ein Gesetz, das die Diskriminierung behinderter Menschen verbietet und das viele praktische Verbesserungen gebracht hat. Ich glaube auch, dass man nicht alles über Gesetze regeln kann, aber offensichtlich braucht es diese manchmal, um Leute zu bewegen und einen gewisse Basis zu schaffen, auf die man aufbauen kann.

Bombenstimmung?

Was derzeit in Großbritannien los ist, lässt hier niemanden kalt. Und dennoch musste ich am Wochenende chronisch den Kopf schütteln als ich die London-Korrespondenten der deutschen Fernsehsender sah. Die Stadt sei in heller Aufregung, Menschen hätten Angst mit der U-Bahn zu fahren. Nicht davon stimmte. Ich bin noch am gleichen Tag U-Bahn gefahren. Die war so voll wie immer – mit Londonern und Nicht-Londonern.

Die Menschen reden natürlich über die Anschläge und es gibt erhöhte Sicherheitsvorkehrungen in der ganzen Stadt. Aber viele sind sich einig, dass man jetzt gerade weitermachen muss und sich niemand Angst einjagen lassen soll. Dafür müsse man um so aufmerksamer sein. Und ich glaube, das sind die Leute auch. In meinem Bus hing heute morgen schon ein neuer Hinweis, herrenlose Gepäckstücke zu melden. Auch den Humor haben die Briten nicht verloren. Ein Kollege meinte als er die Bilder vom Picadilly Circus sah: „Also klar ist ja wohl eines: Briten wollten die nicht treffen. Am Picadilly Circus trifft man jeden, aber keine Briten.“

Ich möchte an dieser Stelle mal Konstantin zitieren:
„Dies ist London. Wir haben Erfahrung mit Bomben. Schon vergessen? Und wie jedesmal werden wir damit umgehen, wie es zivilisierte Menschen tun. Wir werden uns um die Verletzten kümmern und um die Toten trauern und die Schuldigen suchen. Und mit jeder neuen verdammten Bombe werden wir uns daran erinnern, dass Toleranz und Offenheit zu den wichtigsten Tugenden gehören. Wir sind stolz darauf Londoner zu sein. Wir werden zusammenhalten.“ Recht hat er!

Deutschland hängt an mir

Die Bundesregierung möchte von mir (und von allen anderen Auswanderern) wissen, warum ich ausgewandert bin und unter welchen Bedingungen ich wieder zurück käme. Das Bundeswirtschaftsministerium hat dazu eine Studie in Auftrag gegeben. Ich habe den Fragebogen sehr gerne ausgefüllt.

Die vorgegeben Antworten lassen auch schon darauf schließen, dass sie wissen, wo die Probleme Deutschlands liegen.

Umfrage
Fragetext: Sie haben angegeben, dass Toleranz und Gestaltungsfreiheit ein ausschlaggebender Grund für Ihre Auswanderung darstellte. Im Umgang mit wem fehlte Ihnen Toleranz und Gestaltungsfreiheit? Frauen, Personen ausländischer Herkunft / Migranten, Behinderten, älteren Menschen, Kindern, Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung, Menschen wegen ihrer religiösen Orientierung, Menschen wegen ihrer politischen Orientierung, Sonstigen.

Interessant fand ich, dass in der Auswahlliste alle Gruppen als „Menschen“ bezeichnet werden. Nur die Menschen mit Behinderungen sind die „Behinderten“.

Happy Birthday, Lubna

Bevor ich für BBC gearbeitet habe, war der Irakkrieg eine Sache, die ziemlich weit weg war. Bis ich Lubna kennen lernte. Ich habe oft am Telefon mit ihr gesprochen als ich bei World have your say gearbeitet habe. Sie ist Medizinstudentin aus Bagdad. Sie möchte Kinderärztin werden und ist verzweifelt über die Situation im Irak. Es verging kaum ein Tag, an dem sie sich nicht in der Redaktion gemeldet hat, um ihre Meinung zu sagen und zu schreiben. Wer nicht weiß, was Krieg wirklich bedeutet, muss nur Lubna zuhören.

Heute ist ihr 21. Geburtstag. Aber sie ist nicht sicher, ob sie diesen wirklich feiern soll. Sie hat ihre Geschichte in einem Brief zusammen gefasst, der mich sehr berührt hat. Sie hat kurz vor ihrem Geburtstag zwei Freunde verloren. Meine Kollegen von „World have your say“ haben ihr eine Sendung gewidmet. Sie erzählt über die Situation und ihr Leben im Irak. Die Sendung hat mich tief beeindruckt. Zum Nachhören rechts auf der WHYS-Seite auf Wednesday klicken.