Archiv für Leben

Liebe inklusive

Ich wollte die Sendung erst ignorieren. Als ich das erste Mal von „The Undateables“ las, dachte ich, einfach totschweigen, dann erledigt sich das Problem schon von alleine. Da hatte ich die Rechnung ohne die Marketingabteilung des Senders Channel 4 gemacht, die das ganze Land mit Plakaten zupflastern lies auf denen mehrere behinderte Menschen zu sehen sind. „The Undateables“ steht darunter.

Keine U-Bahnfahrt, bei der man nicht an einem der Plakate vorbei kam. Am Tag als die Sendung startete, wusste ich, dass Ignorieren nicht die richtige Strategie ist. Eine Mutter eines behinderten Kindes im Teeanageralter schrieb auf Twitter, ihr Kind sei auf der Straße gerade als „undateable“ beschimpft worden – und das im fast immer politisch korrekten England.

Als die ersten empörten Stimmen laut wurden, sogar das European Disability Forum in Brüssel meldete sich zu Wort, habe ich dann doch für epd darüber geschrieben, anstatt die Sendung zu ignorieren.

Das Ergebnis steht heute unter anderem in der taz, aber auch in anderen deutschen Tageszeitungen.

„The Undateables“ ist eine Reality-Dating-Show mit behinderten Menschen. Mit Nachahmung deutscher Sender ist schwer zu rechnen. Das Programm sucht für die behinderten Kandidaten einen potenziellen Partner, schickt sie auf Dates und filmt sie dabei natürlich.

Das Programm geht grundsätzlich davon aus, dass behinderte Menschen als Partner nicht vermittelbar sind. Daher auch der Titel. Und jetzt kommt Channel 4 und rettet diese Menschen aus der Einsamkeit. Der Sender belegt das mit einer Studie, aus der angeblich hervorgeht, dass sich 70 Prozent der Briten nicht vorstellen können, mit einer behinderten Person Sex zu haben. Meine – durchaus durch den britischen Humor beeinflusste – Reaktion war: Also ich möchte auch mit 70 Prozent der Briten auch keinen Sex haben.

Aber ich habe mit der Sendung ein ganz anderes Problem. Sie tut so als biete sie eine Lösung eines Problems, das sie selbst mitverursacht. Sie hämmert den Leuten in die Köpfe ein, behinderte Menschen seien keine potenziellen Partner. Jedenfalls nicht, so lange Channel 4 nicht auftaucht. Und selbst dann werden einige der Kandidaten immer noch so präsentiert als wäre es abwägig, dass jemand mit dieser oder jenen Behinderung einen Partner finden.

Es ist statistisch wirklich so, auch in Großbritannien, dass Menschen mit Behinderungen, vor allem Frauen, öfter Single sind als nicht behinderte Menschen.

Aber woher kommt das?

Es wird offensichtlich insgesamt nicht gerade einfacher, gute Beziehungen zu führen. Die Scheidungsrate spricht Bände und jeder kann sich ja mal seinen eigenen Freundeskreis anschauen, wie da Beziehungen plötzlich auseinander gehen. Da kann man jetzt viel diskutieren, warum das so ist. Tatsache ist, es gibt allgemein eine Tendenz dazu, sich schneller wieder zu trennen oder sich gar nicht aufeinander einzulassen.

Dann muss man sich mal überlegen, wo man einen potenziellen Partner kennenlernt: Bei der Arbeit (oder über die Arbeit entstandene Zusammenhänge), in der Freizeit, beim Sport, an der Uni etc. Das sind nachwievor Lebensbereiche, zu denen Menschen mit Behinderungen weniger und schwieriger Zugang haben als nicht behinderte Menschen. Die Beschäftigungsquote behinderter Menschen ist verheerend, Freizeiteinrichtungen sind vielfach nicht barrierefrei, die Bildungschancen behinderter Menschen sind schlechter als die nicht behinderter Menschen. Das wirkt sich indirekt auch auf die Lebensgestaltung von behinderten Menschen aus – und auf deren Sozialisation.

Das Beste, was mir im Leben passieren konnte, war, dass ich immer auf einer Regelschule war. Das hat nämlich meine eigene Wahrnehmung massiv geprägt, glaube ich. Ich hatte immer sehr ähnliche Ziele und Träume wie meine nicht behinderten Klassenkameraden und habe auch immer das gemacht, was sie gemacht haben. Ich habe früh gelernt, meine Bedürfnisse zu artikulieren und diese durchzusetzen.

Andererseits habe ich gelernt, dass das nicht zu viel verlangt ist. Alle netten Menschen gehen darauf ein und der Rest ist es eh nicht wert, das habe ich schnell gelernt, und das ist auch bei Beziehungen so.

Womit wir bei den Männern wären: Die Spreu trennt sich sehr früh vom Weizen, wenn man eine Behinderung hat. Oder anders ausgedrückt: Die Arschlöcher interessieren sich schon mal von vorneherein eher selten für einen. Und das mag zwar als Teenager nicht immer einfach zu verstehen sein, mit heute 35 aber denke ich, das war schon ganz gut so. Ich hatte nur nette Freunde, es war kein einziges Arschloch dabei. Und ich weiß, dass das nicht selbstverständlich ist.

Ich glaube auch, dass das Umfeld, gerade bei Teenagern, eine wichtige Rolle spielt. Vor ein paar Wochen habe ich erst wieder erlebt, wie eine Mutter ihrer etwa 17 Jahre alten behinderten Tochter ins Wort fiel, die sich ansich sehr eloquent für Barrierefreiheit gegenüber einem Politiker einsetzte. So erzieht man seine Kinder nicht zu selbstbewussten Menschen, liebe Gluckeneltern. Auch Eltern von behinderten Kindern müssen irgendwann mal loslassen können und sollten ihre Kinder zur Selbstständigkeit ermutigen.

Und noch etwas halte für sehr wichtig: Man kann nur von anderen Menschen verlangen, dass sie die Behinderung akzeptieren, wenn man sie selbst akzeptiert hat. Kein Mensch möchte sich ständig anhören, wie schwer man es hat. Höchstens irgendwelche Leute mit Helfersyndrom, aber das ist ja nun auch keine Basis.

Letztendlich gilt, was immer gilt: Rausgehen und Leute kennenlernen – anstatt seine Seele an Channel 4 zu verkaufen. Das führt nicht nur dazu, dass man mehr Leute kennenlernt und damit mehr Leute als Partner in Frage kommen, sondern das führt auch dazu, dass die Gesellschaft insgesamt den Umgang mit behinderten Menschen als normal empfindet. Denn selbst wenn die Statistik stimmt, dass die Mehrheit der Leute sich keine Sex mit behinderten Menschen vorstellen kann, heißt das nur eines: Sie kennen zu wenige.

Von Spreu und Weizen

Es gab einen Fahrerwechsel auf dem Weg zu meinem Schneider, der mir nur schnell einen Knopf an meinem Mantel wieder annähen wollte. Ich war zuvor problemlos in den Bus eingestiegen und dachte, ich käme auch problemlos wieder raus. Die Rampe funktionierte, der Bus war ein eher neueres Modell und es war kein Doppeldeckerbus. Die Rampen an den kleinen Bussen funktionieren oft besser als bei den Doppeldeckerbussen. Keine Ahnung warum.

Ich drückte den Knopf mit dem Rollstuhlsymbol, aber der Fahrer reagierte nicht. Ich rief nach vorne, dass er mir doch bitte die Rampe ausfahren solle. „Ich kann Sie nicht hören“, antwortete er. Erst dachte ich, er hört mich wirklich nicht, was angesichts der Größe des Busses schon etwas ungewöhnlich war. Ich bat ihn weitere zwei Mal die Rampe auszufahren, aber die Antwort war immer wieder die Gleiche: „Ich kann Sie nicht hören.“ Nach dem dritten Mal fügte er hinzu: „Sie müssen bis zur nächsten Haltestelle warten.“ Er hatte mich also sehr wohl verstanden.

An der nächsten Haltestelle, die sehr weit von meinem Schneider entfernt war, sagte mir der Busfahrer in sehr barschem Ton, die Rampe sei defekt. Er hatte nicht einmal versucht, sie auszufahren. Das wusste ich, weil es einen Warnton gibt, wenn die Rampe ausfährt. Da wurde mir klar, dass er mich vorher gehört hatte und mich einfach schikanieren wollte.

Ich blieb ganz ruhig und sagte: „Okay, und was schlagen Sie vor, wie ich jetzt den Bus verlassen soll?“. Plötzlich sprang er auf, knallte mit der Tür seiner Fahrerkabine, vielleicht trat er auch gegen sie, und schrie mich an. Schimpfte auf den Bus, auf mich, auf das Leben, fluchte und baute sich vor mir auf und beschimpfte mich. „Sie brauchen mich nicht anzuschreien“, sagte ich. „Ich werde Sie so oder so Ihrem Arbeitgeber melden. Lassen Sie mich bitte aus dem Bus.“ Daraufhin zog er mich ohne Rampe aus dem Bus und rauschte davon.

Ich nahm sofort mein Handy und rief die Verkehrsbetriebe an, um ihnen mitzuteilen, dass einer ihrer Fahrer wohl ein kleines Aggressionsproblem hat, das er offensichtlich an Rollstuhlfahrern auslässt. Die Frau der Beschwerdehotline war deutlich hörbar betroffen, entschuldigte sich in aller Form, versprach mir, ein Disziplinarverfahren einzuleiten, aber mein Tag war eigentlich gelaufen.

Situationen wie diese passieren nicht ständig, aber sie kommen leider viel zu oft vor. Ich bejammere das nicht, aber es ist so. Häufig denken Menschen, die mich (und andere Menschen mit einer sichtbaren Behinderung) so behandeln, dass wir uns nicht wehren. Deshalb trauen sie sich überhaupt, sich so aufzuführen. Spätestens wenn ihn sein Manager zum Gespräch bittet, wird er eines Besseren belehrt werden. Das ist das, was mich in solchen Situationen beruhigt. In dem Moment, in dem ich mich beschwere, habe ich wieder ein Stück Kontrolle zurück.

Als ich twitterte und auf Facebook schrieb, dass ich gerade einen Busfahrer gemeldet habe, weil er mich angeschrien hat und mir die Rampe ohne Grund nicht ausfuhr, dauerte es nicht einmal 30 Sekunden bis sich die ersten Freunde bei mir meldeten und mir Mut zusprachen und einfach nett waren. Das sind so Momente, wo mir mal wieder bewusst wird, wie viele unglaublich nette Menschen ich um mich herum habe, die verstehen, was Diskriminierung bedeutet, auch wenn sie selber vielleicht nie wirklich diskriminiert wurden.

Vergangene Woche war ich auf einem Geburtstag eingeladen. Ich kannte das Geburtstagskind nicht gut. Ich hatte ihn in meinem Leben drei Mal getroffen, davon zwei Mal auf einer sehr lauten Party. Wir haben getanzt, aber nicht sehr viel geredet. Es war einfach zu laut. Ich war, ehrlich gesagt, ein bisschen überrascht, dass er mich überhaupt zu seinem Geburtstag einlädt, aber ich habe mich gefreut. In der Einladung stand auch, dass er extra eine barrierefreie Location ausgesucht habe. Da musste ich an Rauls Blogeintrag denken, in dem er schreibt:

„Zu Geburtstagen werde ich oft nicht eingeladen, bei Partys nicht gefragt und bei Urlaubsplänen außen vor gelassen, weil die peinliche Situation vermieden werden soll, in der gemeinsam erkannt wird, dass die entsprechende Aktivität nicht barrierefrei möglich ist.“

Die Einladung des mir fast fremden Geburtstagskindes war für mich ein schönes Beispiel dafür, dass das nicht so sein muss, wenn die Leute einfach nur ein bisschen mitdenken. Und ich muss sagen, ich habe so gut wie nur noch Leute um mich herum, die genau das tun, mitdenken eben – offensichtlich selbst dann, wenn sie mich kaum kennen: Freunde reservieren in barrierefreien Restaurants Tische, buchen selbstverständlich einen Rollstuhlplatz für Konzerte ohne dass ich darum bitten muss, checken vorher, ob etwas barrierefrei ist und sagen mir, ohne dass ich überhaupt frage, wie die bauliche Situation ist, damit ich entscheiden kann, ob ich mit möchte. All das ohne peinliche Diskussion, sondern es ist einfach normal.

Es ist kein Zufall, dass das so ist. Wer, wie ich, ein Leben mit ein paar mehr Herausforderungen als man normalerweise so hat, führt, der tut sich keinen Gefallen daran, sich mit Menschen aufzuhalten, die die Behinderung nicht akzeptieren. Mit „nicht akzeptieren“ meine ich zum Beispiel Menschen, die mich nicht zum Geburtstag einladen, wie Raul es erwähnt, sich keine Gedanken machen und peinlich berührt sind, wenn es nicht klappt. Ich finde das sehr anstrengend. Diese Anstrengung kann und mag ich mir aber nicht leisten, weil ich ja sonst keine Kraft mehr habe, mich mit den Leuten auseinander zu setzen, die ich mir nicht aussuchen kann: Aggressive Busfahrer zum Beispiel. Ich brauche dafür ein Netzwerk, das mich unterstützt und nicht nur bedauert, das mir auf die Schulter klopft und sich mit mir über den Busfahrer empört. Ich brauche ein Umfeld, das mir nicht noch mehr Herausforderungen schafft als ich sowieso schon habe. Und so trennt sich Spreu und Weizen sehr schnell bei mir. Ich merke ziemlich schnell, wer meine Behinderung akzeptiert und wer nicht. Die zweite Gruppe wird es nie leicht haben mit mir. Ich kann mir das nicht leisten, aber das ist auch in Ordnung so. Die erste Gruppe ist mehr als groß genug.

Vorsicht Geek!

Leute, die mich kennen, wissen, ich bin ein Geek. Ich liebe alles, was mit Internet, Gadgets, Handys und Apps zu tun hat und kann mich auch stundenlang darüber unterhalten. Ich mag Geeks, ich gehe sogar regelmäßig zum „London Girl Geek Dinner„, einem Treffen von weiblichen Geeks.

Deshalb musste ich auch nicht lange überlegen als mich Thomas Knüwer fragte, ob ich Lust hätte, für die erste deutsche Ausgabe der Zeitschrift „Wired“ einen Artikel über einen Geek zu schreiben, um in Deutschland diese Bezeichnung bekannter zu machen. Der Geek, über den ich geschrieben habe, ist Olaf Storbeck, der – im Gegensatz zu mir – Zahlen liebt.

Seit heute liegt die erste Ausgabe der „Wired“ in Deutschland, Österreich und Schweiz in den Regalen – sie wird im Bundle mit „GQ“ verkauft. Im Oktober gibt es sie auch im Einzelverkauf. Zudem gibt es eine App mit zahlreichen Zusatzinformationen.

Wired-Ausgaben

Ich lese die amerikanische Ausgabe der „Wired“ schon länger auf dem iPad und die britische „Wired“ kaufe ich mir manchmal auf Papier. Was gibt es also Schöneres als für eine Zeitschrift zu schreiben, die man selber liest? Meine eigene Zeitung basiert sogar auf dem simplen Prinzip, dass das in die Zeitung kommt, was ich selber lesen würde.

Und so bin ich heute voller Vorfreude in Hamburg in einen Zeitschriftenladen und habe alle „Wired“-Ausgaben gekauft, die sie hatten. Die „Wired“ hat mich dann auch darüber hinweg getröstet, dass mein neuer Rollstuhl nicht so ist, wie ich ihn mir vorgestellt und bestellt habe und ich nun ohne ihn zurück nach London fliegen werde. Es ist ja nicht so, dass ich nicht bereits vier Monate darauf warte und mein alter Rollstuhl bereits drei Mal geschweißt wurde, weil die Original-Schweißnähte reißen. Aber als Geek fahre ich natürlich keinen Nokia 6310-Rollstuhl, sondern eher ein iPhone 5 (wann kommt das denn endlich?) unter den Rollstühlen.

Ich habe ein paar Freicodes für die „Wired“-App, die ich gerne an meine Blogleser abgebe. Aber nur, wenn Ihr mir eine Frage in den Kommentaren beantwortet: Wenn Du eine Sache ändern könntest, um das Leben von Menschen mit Behinderungen zu verbessern, was wäre das? Ich suche mir (ganz subjektiv) die besten Antworten aus und schicke Euch den Code zu (bitte korrekte E-Mailadresse angeben).

Update: So, die Codes sind vergeben. Ihr dürft natürlich dennoch weiter kommentieren.

C’est la vie

Ich erwähnte ja bereits, dass bei mir derzeit nichts so funktioniert, wie ich das plane. Heute war schon wieder so ein Tag.

Ich wollte von London aus mit dem Auto nach Hamburg fahren. Eigentlich wollte ich fliegen, aber bekam für heute keinen preiswerten Flug und dachte, ich fahre einfach mit dem Auto. Ich wollte sowieso ein paar größere Einkäufe machen, Leute besuchen und so weiter.

Ich weiß nicht mehr, was mich geritten hat, die Fähre zu buchen statt den Eurotunnel. Und dann auch noch mit Seafrance. Ich hatte Seafrance schon bei der Anmeldung mitgeteilt, dass ich Rollstuhlfahrerin bin. Das ist insofern wichtig, weil die Fährgesellschaften dann darauf achten, einen Autostellplatz in der Nähe des Fahrstuhls und mit genügend Platz zu geben. Vor der Einfahrt auf die Fähre kam sogar noch ein Mitarbeiter zu mir und fragte mich, auf welcher Seite des Autos ich denn Platz brauche. Ich dachte noch „Klappt ja super“, wurde aber auf der Fähre eines besseren belehrt. Ich bekam einen Stellplatz ohne Platz an der Fahrertür, konnte meinen Rollstuhl nicht ausladen. Und man muss bei der Überfahrt das Auto verlassen.

Also sagte ich dem Einweiser bescheid und diverse Autos mussten wieder rückwärts aus der Fähre rausfahren – so auch ich.
Ich hatte dann einen Platz in der Nähe der Fahrstuhltür, ging nach oben und freute mich auf Hamburg. Dort sollte ich nie ankommen.

In Calais angekommen fuhr ich von der Fähre und guter Dinge etwa zwei Kilometer weiter bis ich plötzlich fast die Kontrolle über mein Auto verlor. Ich wusste sofort, dass mir ein Reifen geplatzt ist und schaffte es gerade noch, das Auto auf den Standstreifen zu befördern – oder besser gesagt, auf das, was die Franzosen dafür halten. Das Hauptproblem war zu bremsen, ohne die Kontrolle über das Auto zu verlieren. Ich fuhr etwa 90 km/h als der Reifen platzte. Zudem endete der Standstreifen an der Stelle und verlief spitz zu. Ein Teil des Autos stand also auf der Fahrbahn, nicht viel, aber die LKW und Autos mussten schon etwas nach links ziehen, um an mir vorbeizukommen. Kurzum: Ich stand da saugefährlich und hatte richtig Angst.

Aufgeschlitzter Reifen

Da ich ja nicht so einfach aus dem Auto komme, sondern meinen Rollstuhl ausladen muss, was auf der Autobahn wenig ratsam ist, rief ich die Polizei an. Ich gebe zu, ich musste erst einmal überlegen, was denn in Frankreich die Notrufnummer ist. Da fiel mir ein, dass ich in meiner eigenen Zeitung mal eine Meldung hatte, dass es jetzt einheitliche europäische Notrufnummer gibt: 112. Da rief ich also an und es lief ein Band mit einer Ansage, die ich nicht verstand. Ich war mir nicht einmal sicher, ob das wirklich der Notruf ist. Es hörte sich eher an wie die Warteschlange eines Telefonanbieters. Aber es meldete sich eine Frau, die mir sagte, ich sei richtig. Ich erklärte ihr halb in Französisch, halb in Englisch meine missliche Lage und dass ich Rollstuhlfahrerin bin und dringend Hilfe brauche, weil ich mich nicht in Sicherheit bringen kann.
Sie schaltete mich in eine Dreierkonferenz mit der Polizei und erklärte der Polizei das Problem, erwähnte auch, dass ich behindert bin und mein Auto nicht verlassen kann, um mich in Sicherheit zu bringen.

Und dann denkt man als deutsch-britisch sozialisierter Mensch, da kommt jetzt gleich die Polizei mit Martinshorn und alles wird gut. Nicht so in Frankreich. Es kam erst einmal niemand. Ich rief in meiner Not den ADAC an, die auch in Frankreich ein Callcentre haben. Der Mann sagte mir, es würde in Frankreich lange dauern bis man auf der Autobahn Hilfe bekommt. Ich solle mich in Sicherheit bringen. Ich erklärte ihm, dass ich das nicht kann und er riet mir, nochmal bei der Polizei Druck zu machen.

Nach 45 Minuten rief ich also wieder an und sagte, ob ihnen klar sei, dass das lebensgefährlich ist, wie ich da stehe. Und siehe da, da kam dann doch mal ein Streifenwagen. Aber die sicherten nicht die Unfallstelle, sondern stellten sich ähnlich doof wie ich auf den Seitenstreifen – ohne Blaulicht, ohne Warndreieck. Keiner der beiden Polizisten sprach ein Wort Englisch. Und ich hatte zwar im Französischunterricht das Lied „Sur le pont d’Avingon“ gelernt und konnte beschreiben wie Madame Leroc Kuchen backt, aber leider nicht, wie man sich im Notfall verständigt. Wir verständigten uns mit Zeichensprache und ich verstand, dass ein Abschlepper bestellt wurde.

Der kam auch irgendwann und der durchaus kompetente Mensch machte den Polizisten klar, dass sie doch mal die Unfallstelle absichern sollten. Prima Idee! Da stand ich schon über eine Stunde auf der Autobahn.

Das Absichern der Unfallstelle sah dann so aus, dass die Polizistin sich ohne Warnweste, Kelle oder sonst was auf die Fahrbahn stellte und den Fahrern in ihrer weißen Bluse zuwinkte, die Spur zu wechseln. Vive la France! Allerdings stand unterdessen der Abschlepper hinter mir und so war ich etwas abgesichert.

Obwohl der ADAC noch sagte, dass man in Frankreich keine Reifen auf der Autobahn wechseln dürfe, begann der Mann den Reifen zu wechseln. So musste ich wenigstens nicht in irgendeine Werkstatt. Ich wär auch gar nicht in den LKW reingekommen und da die Polizei in einem Kleinwagen rumfuhr, wäre ich auch da eher schlecht reingekommen.

Nach der Aktion hielt ich es für keine gute Idee, weiter nach Hamburg zu fahren, zumal ich nicht wusste, in welchem Zustand das Ersatzrad ist, auch wenn mir der Techniker versicherte, ich solle ruhig damit fahren – nur mit dem Luftdruck wisse er nicht genau bescheid.

Ich fuhr also zurück – diesmal durch den Eurotunnel, nicht mit der doofen Fähre. Ich vermute, dass ich mir das Rad bei der Rückwärtsfahraktion auf der Fähre aufgeschnitten habe. Ist auch egal. Ich bin heilfroh, dass nichts passiert ist und ich noch lebe.

Und weil ich ja schon stur bin, fliege ich morgen trotzdem nach Hamburg. Mit der Swiss, auch wenn die gerade mal wieder nicht so genau weiß, ob sie mich als behinderte Passagierin mitnehmen möchte – ich hätte mich ja nicht 48 Stunden vorher angemeldet. Meine hellseherischen Fähigkeiten sind leider nicht so gut, dass ich gestern schon wusste, was mir heute passiert.

Leben ist das, was passiert, während du dabei bist, andere Pläne zu schmieden.

John Lennon hat mal gesagt: „Leben ist das, was passiert, während du dabei bist, andere Pläne zu schmieden.“ Wie recht er hatte! Egal, was ich gerade mache, plane oder mir vornehme, es kommt alles immer ganz anders, wie ich mir das vorher überlegt habe. Ich nehme mir Sachen vor, die schon nach 24 Stunden nicht mehr relevant sind, ich führe die besten Interviews mit Menschen, mit denen ich eigentlich gar nicht reden wollte, über Themen, von denen ich keine Ahnung habe. Ich gehe auf Partys, auf die ich gar nicht gehen wollte, und habe den größten Spaß.

Gerade sitze ich in einem Frankfurter Hotel in meinem alten Sopur-Rollstuhl (Insider erinnern sich vielleicht an die Zeit als Sopur noch cool war, ja, es ist lange her und der Rollstuhl dementsprechend alt). Mein Proactiv-Rollstuhl, der mir sieben Jahre treue Dienste geleistet hat und so gut wie nie Reparaturen hatte, ist mir gestern buchstäblich unterm Hintern zusammen gebrochen. Eine Achse ist gebrochen und die Stange am Rückenteil.

Nun muss ich zugeben, dass diese Entwicklung durchaus voraussehbar war. Sieben Jahre ist für meine Rollstühle ein geradezu biblisches Alter. Keiner meiner Rollstühle hat bislang länger als fünf Jahre in meinen Diensten gestanden. Schon im März ist mir beim Tanzen eine wichtige Schraube gebrochen und eine USA-Reise, die ich am nächsten Tag antreten wollte, stand auf Messers Schneide. Aber ich bin damals doch in San Diego angekommen und ein netter Fahrradladenbesitzer hat ihn repariert.

Am Tag vor der USA-Reise fragte mich eine Freundin, ob ich mit ihr in die Kensington Roof Gardens auf eine Party gehe. Auch wenn das defintiv der x zu vielste Event war, auf dem ich dieses Jahr war und ich mir vorgenommen hatte, an dem Abend früh ins Bett zu gehen, habe ich zugesagt, war aber zu faul, anzurufen und zu fragen, ob es barrierefrei ist. Ich dachte mir, 6. Stock, da stehen die Chancen gut, dass es einen Aufzug gibt. Es gab nicht nur einen Aufzug, es gab diverse und einen Hublift am Eingang.

Es gab Türsteher, die super nett und zuvorkommend waren, den Hublift bedient haben etc. Dann kam ich oben an und ein Mitarbeiter passte mich ab und sagte mir, ohne dass ich darum gebeten hatte, das Wichtigste über die Barrierefreiheit der Location: Wo die barrierefreie Toilette ist, wie ich in den Garten komme und dass ich jederzeit einen Mitarbeiter um Hilfe bitten kann. Da war ich ja schonmal baff über so viel Gastfreundlichkeit. Dann nahm er mir meine Jacke ab, damit ich nichts ins Gedränge an der Garderobe musste. Super nett!

Kensington Roof Gardens ist wahrscheinlich einer der besten Orte, um in London eine Party zu feiern. Es ist nicht nur sehr nett (eine Gartenlandschaft über den Dächern Londons), sondern auch noch barrierefrei, obwohl es viele Ebenen gibt. Aber es gibt Rampen, auch ins Partyzelt. England ist wirklich genial, was so etwas angeht.

Ich hatte jedenfalls einen super Abend. Die Live-Band war spitze und ich habe stundenlang getanzt und hatte Spaß. Als ich wieder zurück nach draußen wollte, merkte ich, dass sich die Einzelteile meines Rollstuhls selbstständig machten. Eine ziemlich wichtige Schraube war gebrochen. Der Kopf war einfach abgefallen. Verschleiß und Tanzen verträgt sich nicht.

Nun war das Problem, dass das Seitenteil daduch in meinem rechten Rad hing. Diverse Partygäste begannen, sich auf die Suche nach etwas zu machen, womit man die Schraube provisorisch ersetzen konnte. Es war wie im Film. Ein Mann entdecke Gartendraht und klaute diesen aus den Blumen. Unterdessen kam der Manager, der wiederum den Haustechniker rief, der sofort begann, den Rollstuhl zu reparieren. So gut es eben ging, mit Gartendraht. Also eine Party-Location, die um Mitternacht noch einen Techniker hat, der Rollstühle repariert, hat mich schwer beeindruckt und ich habe mich auch 1000 Mal bedankt. Britischer Pragmatismus pur! Die Leute waren alle so freundlich und hilfsbereit und machten gar kein Aufhebens darum. Man wollte mir einfach nur helfen.
Die Reparatur hielt nicht einmal bis zur U-Bahnstation. Die Freundin, die mich mitgenommen hatte, schob mich, da der Rollstuhl kaum noch fuhr. Von der U-Bahn habe ich mir dann ein Taxi nach Hause genommen. Und von dort am nächsten Tag mit dem Auto zum Flughafen und in den USA direkt in den nächsten Fahrradladen.

Gestern ist der Rollstuhl aber so gebrochen, dass man ihn maximal mit Schweißen reparieren könnte, wenn überhaupt. Ich habe bereits (okay, nicht bereits, aber dann doch mal) im Mai einen neuen Rollstuhl bestellt und dieser hatte vor zwei Wochen sogar schon einen Liefertermin, der aber nicht eingehalten wurde. Und nun hängt meine Terminplanung (fast hätte ich „Leben“ geschrieben) der nächsten Tage (hoffentlich nicht Wochen) in den Händen von Proactiv (das ist die Rollstuhlfirma, die gerade cool ist). Ich hoffe, die sind sich dessen bewusst und liefern den neuen Rollstuhl schnell. Am besten vorgestern. Dann könnte ich von Frankfurt nach Hamburg düsen und den Rolli abholen. Vielleicht sogar noch diese Woche. Oder nächste. Aber ich plane das mal lieber nicht. Geht ja eh wieder schief.

Re:publica 2011: Der Friedrichstadtpalast applaudierte lautlos

Ich glaube, ich übertreibe nicht, wenn ich schreibe, dass die letzten Tage wohl die Besten in Deutschland waren seit ich nicht mehr in Deutschland lebe.
Seit Dienstag abend bin ich in Berlin, um die re:publica zu besuchen. Ich wusste ja, dass meine Twitter-Timeline großartig ist, aber ich weiss nun auch, dass es auch im richtigen Leben richtig nette Menschen sind. Ich habe so viele nette Menschen getroffen, denen ich folge oder die mir folgen und / oder dieses Blog lesen. Außerdem habe ich Menschen wieder getroffen, die ich nicht mehr gesehen hatte, seit ich aus Deutschland weg bin. Und ich habe mich so gefreut, dass sie sich gefreut haben, mich zu sehen. Es war wie ein Klassentreffen nach langer langer Zeit.
Als allererstes traf ich Julia Probst, die für mich den besten und bewegendsten Auftritt auf der Re:publica hatte. Sie ist gehörlos und wurde bekannt, weil sie darüber twittert, was sie Fußballspielern und Trainern während des Spiels von den Lippen abliest und zudem die Körpersprache von Politikern analysiert. Außerdem bloggt sie zum Thema Barrierefreiheit und Gehörlosigkeit.

Philip Banse interviewte Julia (und andere Blogger) über ihre Erfahrungen und fragte sie über die Gebärdensprache aus. Eine Dolmetscherin übersetzte das, was Julia gebärdete und das, was der Moderator fragte. Und das Publikum im gut gefüllten Friedrichstadtpalast hörte aufmerksam zu und war fasziniert. Auch dann als Julia anprangerte, dass in Deutschland nur 10 Prozent des Fernsehprogramms untertitelt wird, während in den USA und Großbritannien bereits 100% Untertitel angeboten werden. Und sie prangerte die fehlende schulische Integration behinderter Kinder an. Kurzum: Julia hat in den 20 Minuten wahrscheinlich mehr für das Bewusstsein bei der Gesellschaft, für Inklusion, Gebärdensprache und Barrierefreiheit getan als so mancher Almosenverein in den letzten 10 Jahren. Und sie hat eines gezeigt: Man kann die Leute wirklich für das Thema begeistern, wenn man nur will und es richtig macht. Gebärdensprache kann so ein tolles Instrument dafür sein.

Als das Gespräch zu Ende war, applaudierte der ganze Friedrichstadtpalast in Gebärdensprache. Die Leute hielten ihre Hände in die Luft und schüttelten sie, eben so wie man das in Gebärdensprache macht. Und ich muss ehrlich sagen, in dem Moment war ich wirklich gerührt, weil ich es als riesiges Zeichen der Akzeptanz empfand. Die Gebärdensprache ist sozusagen bei den Nerds angekommen, dann kann das mit den Normalbürgern doch auch klappen, denke ich mir.

Und weil es mich so viele Leute gefragt haben: Ja, die Barrierefreiheit der Re:publica hat sich verbessert seit ich das letzte Mal dort war. Am barrierefreien Eingang steht dauerhaft Personal, das den Eingang umgehend öffnet und der Mitarbeiter in der Kalkscheune hat mir sofort seine Handynummer gegeben, damit ich ihn jederzeit erreichen kann und rein und raus komme.

Was ich mir für das nächste Mal wünsche: Schriftdolmetscher, die das Gesagte mitschreiben, was dann auf die Leinwand geworfen wird, und Gebärdensprachdolmetscher. Dann könnten auch gehörlose und schwerhörige Menschen die Sessions ohne Einschränkungen besuchen. Ich zahle auch 10 Euro mehr an Eintritt, wenn das möglich wäre. Und ich bin sicher, nach dem tollen Auftritt von Julia bin ich nicht die Einzige. Oder es findet sich ein Sponsor. Ich träume schon vom Banner am Eingangsbereich: „Die Barrierefreiheit auf der re:publica 2012 wird Ihnen präsentiert von [hier eine Aufzugs-, Hörgeräte-, Treppenliftfirma einsetzen oder eine Firma, die einfach verstanden hat, dass behinderte Kunden auch Kunden sind und dass das Thema eh gerade ziemlich cool ist]“.

Vier Jahre London

Am 5. Dezember hat sich meine Ankunft in London mal wieder gejährt. Ich bin jetzt vier Jahre in London, obwohl ich ja nur sechs Monate bleiben wollte. Ich muss dennoch sagen: „Was, ich bin erst vier Jahre in London?“ Denn ich habe in den vier Jahren so viel erlebt, das wäre selbst für 10 Jahre viel.

  • Ich habe für BBC gearbeitet
  • Eine Firma gegründet
  • Eine Zeitung ins Leben gerufen
  • In drei Wohnungen gewohnt
  • Ein Haus gekauft
  • Sehr viele, sehr nette Menschen kennen gelernt
  • Die deutsche Kanzlerin und den britischen Premierminister getroffen und ganz viele andere Politiker, Stars und Sternchen
  • Eine neue Sprache gelernt (British Sign Language)
  • Viele Print-, Radio- und Fernsehinterviews geführt und gegeben
  • Vorträge gehalten, auf Kongressen, an Hochschulen, in Deutschland, Österreich und Großbritannien
  • Eine Fußball-Weltmeisterschaft überlebt

In den kommenden vier Jahren möchte ich gerne

  • die britische Staatsangehörigkeit annehmen (ja, ich behalte auch die deutsche, keine Panik), damit ich wählen kann
  • noch mehr nette Menschen kennen lernen
  • British Sign Language verbessern und eine Qualifikation bekommen (NVQ3/4)
  • Anfangen, auf Englisch zu bloggen
  • Alle Projekte verwirklichen, die in meinem Kopf rumschwirren
  • Mehr Zeit haben
  • Die Olympischen Spiele in London er- und überleben
  • die Queen treffen (und selbstverständlich am Straßenrand William und Kate zuwinken) – nein, ich bin wirklich keine Royalistin, aber ich bemühe mich, mich zu integrieren

Was mir noch fehlt zum Glück?
Ein Dönerladen mit gutem deutschen Döner Kebab. Der Döner hier schmeckt nicht.

Diagnose: Querschnittlähmung oder „Der Kaiser ist nackt“

Ich verfolge seit Samstag die Berichterstattung um das Unglück bei „Wetten, dass…?“. Mir war schon ziemlich früh klar, dass die Verletzungen des Kandidaten ziemlich stark auf eine Querschnittlähmung hindeuten. Nun ist er heute aus dem künstlichen Koma geholt worden und hat leider nach wie vor Lähmungen an Armen und Beinen. Auch wenn es offensichtlich keiner aussprechen möchte – und schon gar nicht das ZDF: Der Mann hat mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Querschnittlähmung.

Das heißt aber nicht, dass nicht noch in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren Verbesserungen eingetreten können, was die Funktionsfähigkeit der Arme, Beine und Organe angeht. Meine Querschnittlähmung habe ich als Neugeborene bekommen nach der Geburt und bis etwa zum 12. Lebensjahr kamen immer noch Funktionen zurück. Aber die Querschnittlähmung ist geblieben.

Aber die Schönrederei des Zustands des Kandidaten passt sehr gut dazu, wie wir heute mit diesen Risiken umgehen: Wir blenden sie aus. Man fährt mit 200 km/h bei Regen über die Autobahn und glaubt, man hätte alles im Griff. Man hüpft über Autos und glaubt, es passiert nix. Dass ein Kandidat sich schwer verletzen kann, spielt am Samstagabendfernsehen doch nur eine untergeordnete Rolle, wenn man gemütlich zu Hause sitzt. Wer will denn da an Krankenhaus, Querschnittlähmung oder gar Tod denken?

Es passiert immer nur anderen etwas. Nie einem selber. Und jetzt ist Deutschland in der Situation Augenzeuge geworden zu sein, wie ein Mensch sich wahrscheinlich in den Rollstuhl katapultiert. Ziemlich spektakulär, aber letztendlich doch sehr alltäglich. Rund 1000 Menschen werden im Jahr allein in Deutschland querschnittgelähmt, die meisten sind männlich und hatten einen Unfall. Und jetzt spricht man darüber, ob er jemals wieder laufen kann. Für Menschen mit einer Halswirbelsäulenverletzung ist es ein Erfolg, wenn sie selbstständig atmen können oder die Hände ein bisschen bewegen können.

Es ist naiv zu glauben, in ein paar Monaten sei alles wieder gut. Querschnittlähmung ist nicht heilbar und geht auch nicht einfach wieder weg wie ein Schnupfen. Die Nervenbahnen sind wahrscheinlich durchtrennt oder gequetscht. Was Samuel jetzt braucht, ist eine gute Reha. Wohnung, Hilfsmittel und Assistenz müssen organisiert werden. Ich hoffe sehr, dass das ZDF für solche Fälle versichert war. Das wäre ein Segen für ihn. Dann muss er sich wenigstens nicht mit der Krankenkasse und dem Sozialamt rumärgern. Oder man schafft es, so viele Spenden aufzutreiben, dass er das nicht muss. Es wäre ihm zu wünschen, dass das alles gut geregelt wird, denn das ist die Voraussetzung für ein dennoch selbstbestimmtes Leben. Was aber sicher nicht hilfreich ist, ist dieses „Der Kaiser ist nackt“-Verhalten und der Glaube daran, dass schon alles wieder gut wird. Das ist Zeitverschwendung auf einem Weg zu einer guten Rehabilitation.

Update 13. Dezember 2010: Nachdem Samuel Koch ins Paraplegikerzentrum in der Schweiz verlegt wurde, haben die Ärzte nun bestätigt, dass er eine Querschnittlähmung hat.

Reisen wie Gott in Frankreich

Ich gebe zu, mein Verhältnis zu Frankreich ist schon länger nachhaltig gestört. Nicht erst seit Sarkozy. Ich bin an der französischen Grenze aufgewachsen, meine Eltern hielten es für ne prima Idee, jedes Jahr nach Frankreich in Urlaub zu fahren, mich in einen Kindergarten mit Französischangebot zu schicken, gefolgt von einer Grundschule mit Französisch auf dem Lehrplan und einer Orientierungsstufe in der 5. und 6. Klasse mit 7 Stunden Französisch in der Woche. Es hat alles nichts genutzt, Frankreich und ich mögen uns nicht besonders. Und die französische Sprache spreche ich nur, wenn es sein muss und dann sehr schlecht.

Aber ich gebe dem Land immer mal wieder eine Chance. Und ich muss zugeben, gerade im Bezug auf Barrierefreiheit, hat sich in den letzten 20 Jahren echt was getan, wenn man bedenkt, dass es dort selbst in manchen Touristenzentren und an Raststätten lange nicht einmal Behindertenparkplätze gab. Das ist vorbei und man kann mit etwas Abenteuerlust durchaus auch als behinderter Mensch nach Frankreich fahren.

Vor kurzem war ich zum ersten Mal in meinem Leben in Lyon. Um es vorweg zu sagen, Lyon ist eine relativ barrierefreie Stadt, obwohl sie sehr alt und sogar UNESCO-Weltkulturerbe ist. Die U-Bahn ist total barrierefrei, alle Busse, die ich genutzt habe auch. Es gibt überall öffentliche barrierefreie Toiletten und man findet auch zugängliche Restaurants etc. Das Hauptproblem dieser Reise war der Flughafen und sein Personal, was ich wirklich erstaunlich finde, denn immerhin sind die EU-Vorschriften für behinderte Reisende auch für Lyon gültig.

Ich kam mit British Airways in Lyon an und mein Rollstuhl war nicht da. Man hatte ihn statt an die Flugzeugtür zu bringen, aufs Gepäckband gelegt. Das ist kein Platz für einen Rollstuhl. Ich bat also die Mitarbeiter des Flughafens und die Rampenagentin von BA, mir meinen Rollstuhl zu holen. Als Antwort erhielt ich „Es gebe kein Personal.“ Das war umso erstaunlicher als dass nicht weniger als vier Leute gekommen waren, um mich aus dem Flugzeug zu holen. In Frankreich muss Vollbeschäftigung herrschen.

Sie brachten mich also auf dem Bordrollstuhl – weil ich mich weigerte mich in einen anderen Rollstuhl zu setzen – zum Gepäckband, das keine 200 Meter entfernt war. Auf meine Frage hin, warum niemand den Rollstuhl geholt hat, wenn die Wege doch so kurz sind, antwortete der Mensch vom Flughafen: „Das ist nicht mein Job!“ Reisen wie Gott in Frankreich.

Wir wollten mit der Bahn in die Stadt fahren und standen erst einmal vor einem leeren Fahrstuhlschacht. Da der Flughafenbahnhof einem Monumentalbau gleicht und die Wege entsprechend lang sind, hatten die Architekten zwei Fahrstühle vorgesehen. Jeweils einen an beiden Enden. Unserem Ende war wohl der Sparzwang zum Opfer gefallen und so mussten wir etwa 1500 Meter Umweg in Kauf nehmen.

Später traf ich dann einen ebenfalls rollstuhlfahrenden Freund, der mir sagte, er sei nach Genf geflogen. Französische Flughäfen meide er. Ich verstand sofort, warum.

Ich war also nicht sehr begeistert als es wieder Richtung Flughafen ging. Das Personal hatte sich weder durch Freundlichkeit noch Kompetenz hervorgetan. Das sollte auch so bleiben. Aber der Abflug übertraf die Ankunft bei weitem. Ich bekam Kontakt zur französischen Polizei.

Zuerst einmal brachte mich der Flughafenmitarbeiter zu einem falschen Sicherheitsbereich. Das merkte er aber erst als schon Laptop, Taschen, Jacken etc. gescannt waren. Man freut sich ja, wenn man das Prozedere gleich zwei Mal machen darf. Beim zweiten Band legte ich also wieder die Sachen aufs Band, rollte durch den Metalldetektor und werde dann normalerweise per Hand durchsucht. Von meinem Rollstuhl wird dann eine Staubprobe genommen, unter dem Mikroskop untersucht und ich kann gehen. In Lyon passierte gar nichts. Man ließ mich warten ohne mir zu sagen, was das Problem ist. Die Sicherheitsmitarbeiterin fühlte sich nicht für mich zuständig und so stand ich erst einmal dumm rum.

Zu meiner großen Überraschung kam dann die Polizei. Die anderen Passagiere schauten mich an als sei ich eine Terroristin. Hätte ich wahrscheinlich auch so gemacht, das Aufgebot war groß genug, um das zu glauben.

Sie fragten mich nach meiner Staatsangehörigkeit und meinem Wohnort. Ich sagte, ich sei Deutsche, zeigte ihnen meinen Pass und dass ich in London lebe. Dann durfte ich zu meiner großen Überraschung meine Tasche vom Band nehmen. Das darf man normalerweise nicht, wenn man noch nicht untersucht wurde. Man könnte ja einen gefährlichen Gegenstand hinein tun.

Ich nahm meine Tasche mit und sollte der Polizei in einen abgetrennten Raum folgen. Warum und was genau das Problem ist, wurde mir nicht gesagt. Man fragte mich, ob das mein eigener Rollstuhl sei. Auf meine Antwort mit „Ja“ gab man sich grübelnd und hilflos.

Im Raum anwesend waren eine Polizistin und jemand vom Sicherheitsdienst des Flughafens. Dann fragte man mich peinlich berührt, ob sie mal unter meinen Rock schauen dürfen. Ich lachte und hob meinen Rock bis zu den Knien an. Ich wusste immer noch nicht, was das alles soll. Und dann passierte etwas, was mir klar machte, die hatten keine Ahnung, was sie da tun: Man ließ mich einfach gehen.

Niemand hatte mich angefasst oder meinen Rollstuhl untersucht. Man war einfach nur überfordert. Das ist mir zum letzten Mal vor 15 Jahren in Tunesien passiert. Und so kam es, dass ich im Jahr 2010 mitten in Europa ungeprüft in ein britisches Flugzeug steigen durfte. Von wegen Terrorhysterie! Offensichtlich ist der Umgang mit behinderten Menschen noch Angst einflössender bei manchen Menschen als die Angst vor einem Terroranschlag. Das ganze Verhalten ist umso erstaunlicher, hat die EU den Flughäfen doch aufgelegt, ihre Mitarbeiter im Umgang mit behinderten Fluggästen zu schulen. Wenn die Sicherheitsleute nicht geschult werden, wer dann?

Die Qual der Wahl

Am Donnerstag wird in Großbritannien gewählt. Und zum ersten (und hoffentlich letzten) Mal darf ich an einer Parlamentswahl nicht teilnehmen, obwohl ich in dem Land, in dem gewählt wird, Steuern zahlen. Naja, immerhin darf ich das Gemeindeparlament von Greenwich mitbestimmen. Meine Stimme kommt mir hier fast noch wichtiger vor als in Deutschland, weil die Wahlbeteiligung hier insbesondere bei Kommunalwahlen bedenklich schlecht ist. In unserem Wahlbezirk (Eltham South) lag die Wahlbeteiligung beim letzten Mal bei 40%.

Sehr interessant ist zu sehen, welche Rolle die Behindertenpolitik im Wahlkampf spielt. Das Magazin „Disability Now“ hat die Parteien zu ihrer Behindertenpolitik befragt. Alles in allem ist das alles sehr mau, was dort genannt wird.

Das ist ziemlich unverständlich, denn in einer Umfrage im April unter behinderten Wahlberechtigten gaben zwei Drittel der Befragten an, dass die Behindertenpolitik der Parteien ihre Wahlentscheidung maßgeblich beeinflussen würde.

Sehr interessant diesbezüglich war eine Posse, die sich letzte Woche ereignete. Der Spitzenkandidat der Konservativen, David Cameron, war in London auf einem Wahltermin. In der Näher hielt sich ein Vater mit seinem rollstuhlfahrenden Sohn auf, die eigentlich nur einen Krankenhaustermin wahrnehmen wollten. Das Wahlkampfteam von Cameron dachte sich wohl, es mache ein tolles Pressebild, wenn ihr Kandidat den behinderten Jungen trifft und fragte den Vater, ob er gemeinsam mit seinem Sohn mit Cameron sprechen wolle. Der Vater wollte, denn er hatte sich über die Politik der Konservativen zur schulischen Integration geärgert. Der Vater hatte lange darum gekämpft, seinen Sohn in eine Regelschule schicken zu können und ärgerte sich über eine Passage aus dem Wahlprogramm.

Was die konservativen Wahlkämpfer bekamen, war also kein herziges Wahlkampfbild, sondern ein Debatte auf allen Kanälen und in Zeitungen über die schulische Integration behinderter Kinder und die Politik der Torries – gemeinsam mit einem Bild, das alles andere als herzig aussieht.

Der Vater des Kindes ist zudem Chef eines recht bekannten ThinkTanks und ließ sich freudig und wortgewandt in jede Sendung schalten und trat massiv für die schulische Integration behinderter Kinder ein. So schnell kann ein Wahlprogramm ganz schön altmodisch aussehen.

Ich weiß immer noch nicht, was ich am Donnerstag wähle. Gestern rief die Labour-Partei an und fragte mich, wie wahrscheinlich es sei, dass ich am Donnerstag Labour wähle. Abwarten und Tee trinken!

Für mich wird interessant zu sehen, ob sie die Barrierefreiheit meines Wahllokals verbessert haben. Ich habe mich nach der Europawahl beim Wahlleiter der Gemeinde beschwert, weil der barrierefreie Eingang nach 18 Uhr geschlossen war und ich erst an die Scheibe im Hochpaterre klopfen musste, damit mir jemand aufmacht. Das Wahllokal hatte aber bis 22 Uhr geöffnet. Den E-Mails und den überschwänglichen Entschuldigungen nach zu urteilen, müsste es diesmal klappen.