Archiv für 27.9.2013

Die Alibi-Falle des deutschen Fernsehens

Gestern gab es eine Veranstaltung der Grimme-Akademie zu behinderten Menschen in den Medien. So gut es ist, über das Thema zu diskutieren, aber leider läuft es immer nach dem gleichen Schema ab: Es wird ein Problem benannt (zu wenig behinderte Menschen in den Medien oder wenn, dann falsch dargestellt), alle bedauern das und einzelne Sender verweisen auf irgendwelche Einzelsendungen wie „Menschen, das Magazin“ oder „Selbstbestimmt“ beim MDR oder Nischenprojekte, die sicher lobenswert sind, aber eben Nischenprojekte.

Die BBC hat ein ähnliches Format wie die Sonderprogramme in deutschen Sendern, „Does he take sugar?“ auf Radio 4 bereits 1998 eingestellt, weil sie behinderungsbezogene Themen in die regulären Programme bekommen wollten statt sie in ein Sonderprogramm abzuschieben. Wenn die Sender sich nun also darauf berufen, sie hätten doch so schöne Programme für behinderte Menschen, dann ist das nur ein Beweis mehr, dass diese Programme de facto eine Alibifunktion erfüllen. Haben wir was „für behinderte Menschen gemacht“? Ja.

Mainstream nicht Sonderprogramme

Nur im Mainstream-Programm fehlen die Themen und behinderte Menschen teilweise völlig oder werden völlig schräg dargestellt. Sendungen wie Wiso, Monitor, Frontal21, Panorama und jede dieser drölfzig Talksshows haben Jahre an Sendezeit, um Belange behinderter Menschen zu behandeln und die Themen mal auf eine politische Ebene zu heben.

Hinzu kommen die x Serien. Eine Freundin von mir, Liz Carr, spielt seit kurzem in der BBC-Serie „Silent Witness“ die Laborassistentin Clarissa Mullery. Das ist eine der Hauptrollen der Serie. Die Rolle erinnert übrigens sehr stark an die von Christine Urspruch im Münsteraner Tatort. Dass Clarissa Mullery Rollstuhlfahrerin ist, wird de facto nicht thematisiert. Sie ist es einfach. Und genau das ist es, was im deutschen Fernsehen fehlt. Die Normalisierung von Behinderung.

Ein anderes Beispiel ist Julie Fernandez, eine Rollstuhlfahrerin, die schon als Teenager in diversen britischen Serien mitspielte, darunter „The Office“. Außerdem trat sie in Sendungen auf, darunter Spiel- und Comedyshows. Im Kinderprogramm der BBC moderiert eine Moderatorin, die nur einen halben Arm hat. Auch beim Programm für kleine Kinder, Cbeebies, lernen die Kinder mit Mr. Tumble, wie man gebärdet. Vor Downing Street No.10 steht ganz oft der blinde BBC-Reporter Gary O’Donoghue. Ade Adepitan ist unterdessen ein bekannter Fernsehmoderator und „The Last Leg“ wird von zwei behinderten und einem nicht behinderten Comedian moderiert und zur Primetime auf Channel4 ausgestrahlt und die Nation schaut sich das an.

Es geht, aber man muss es wollen

Die Liste ist ziemlich lang und das sind nur die Leute, die mir spontan einfallen. Es zeigt, es geht also, man muss aber ein bisschen mutig sein und mal etwas neues ausprobieren. Die BBC macht sich dabei übrigens auch ihre eigenen behinderten Mitarbeiter zu nutze. Als ich bei BBC arbeitete, bekam ich eine Einladung zu einem Workshop der Comedy-Redaktion, die mit behinderten Kollegen über neue Produktionen sprechen wollten und wie man behinderte Menschen besser in Comedy-Programme integrieren kann. Die BBC hat allerdings erheblich mehr behinderte Mitarbeiter als alle Radio- und Fernsehsender, die ich so von innen erleben durfte. Das verändert dann auch ganz schnell den Umgang mit den Themen. Vielleicht sollte man da mal anfangen…

Wer braucht schon behinderte Wähler?

Als ich gestern die Wahlarena in der ARD mit dem SPD-Spitzenkandidaten Steinbrück sah, saß ich irgendwann wirklich verärgert vor dem Fernseher. Um es vorweg zu sagen, ich bin mit keiner Partei verheiratet, bin klassische Wechselwählerin und das hier soll kein Angriff gegen eine bestimmte Partei sein. Im Gegenteil. Ich halte den Auftritt von Steinbrück und den Dialog mit dem Rollstuhlfahrer für symptomatisch dafür, wie die deutsche Politik mit ihren behinderten Wählern umgeht. Sie ignoriert ihre Anliegen, hat null Ahnung, was den Leuten am Herzen liegt, weil sie glaubt es handele sich um eine kleine Minderheit.

Es meldete sich in der Wahlarena also ein Rollstuhlfahrer, der sich darüber beschwerte, dass er zwar jahrzehntelang in die Kranken- und Rentenversicherungssysteme eingezahlt hat, aber Probleme hat, einen Rollstuhl finanziert zu bekommen. Wer es sich noch einmal anhören möchte, das Video gibt es in der Mediathek, besagte stelle findet sich in Minute 57. Es geht bei Rollstühlen keineswegs um Zuzahlungen, sondern um die volle Kostenübernahme. Ein angepasster Rollstuhl kostet mehrere tausend Euro, ein elektrischer Rollstuhl das Doppelte.

Ahnungslos

Zusammenfassend: Steinbrück zeigt sich ziemlich ahnungslos bei dem Thema, verweist auf die Belastung der Kassen, meint ein Gesundheitsminister müsse sich des Themas mal annehmen und hofft, dass die Verantwortlichen bei den Krankenkassen die richtigen Entscheidungen treffen.

Ernsthaft? Und das nachdem der Moderator ihn noch darauf hingewiesen hat, dass jedes dritte Hörgerät in Deutschland erst einmal abgelehnt wird. Nun ist Steinbrück kein Sozialpolitiker, aber genau darum geht es: Solche Themen müssen mal raus aus der „Gedöns“-Ecke. Denn es ist auch ein volkswirtschaftliches Problem, behinderte Menschen auszugrenzen. Und genau das passiert, wenn ein beschäftigter Rollstuhlfahrer keinen Rollstuhl mehr bekommt. Er kann nicht mehr arbeiten gehen, nicht mehr am öffentlichen Leben teilnehmen und seine Zeit mit Rumärgern mit der Krankenkasse verbringen statt Geld auszugeben und Steuern zu zahlen.

Was kümmert mich mein Gesetz von gestern?

Es ist wirklich zum Volkssport von Leistungs- und Kostenträgern geworden, behinderten Menschen jeden Stein in den Weg zu legen, den es gibt, statt ihnen Teilhabe zu ermöglichen, wie es das Gesetz von ihnen verlangt. Wieso macht der Gesetzgeber eigentlich Gesetze, wenn es ihm anschließend egal ist, ob diese von den Trägern eingehalten werden?

Wenn Steinbrück mal in sein eigenes Wahlprogramm geschaut hätte, dann hätte er gelesen, dass die SPD einen Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik anstrebt. Ich zitiere: „Wir wollen ein für alle Sicherungssysteme und Leistungsträger einheitliches Bedarfsermittlungssystem schaffen. Damit sollen individuelle Beeinträchtigungen von Menschen erkennbar und tatsächliche Hilfebedarfe ermittelt werden. Problematische Schnittstellen zwischen Trägern von Sozialleistungen müssen zugunsten einheitlicher Verfahren abgebaut werden. Der Anspruch auf Hilfe zur Inklusion wird nicht mehr als Fürsorgeanspruch, sondern als Anspruch zum Ausgleich von Nachteilen ausgestaltet.“

Nicht so im Thema drin

Und was sagt der Kanzlerkandidat? Er sei nicht so im Thema drin. Es geht ja nur – ich zitiere das Statistische Bundesamt – um 7,3 Millionen schwerbehinderte Menschen in Deutschland. Das sind fast 9 Prozent der Bevölkerung. Die Menschen wiederum haben Angehörige, die unmittelbar davon betroffen sind, wenn ihr behinderter Angehöriger nicht die optimale Hilfsmittelversorgung erhält, dadurch vielleicht den Job verliert etc. Die Bundesregierung geht übrigens von tatsächlich doppelt so vielen behinderten Menschen aus und spricht von 20% der Bevölkerung.

Nicht auf dem Zettel

Die Parteien haben die Belange von behinderten Menschen nur überhaupt gar nicht auf dem Zettel. Sie versäumen es, 20% der Bevölkerung anzusprechen. Das kann man auch noch einmal schwarz auf weiß nachlesen. Die Deutsche Gehörlosen-Zeitung hatte Parteien einen Fragekatalog mit für gehörlose Wähler relevante Fragen zukommen lassen. Vor Redaktionsschluss nicht geantwortet haben die AfD (geschenkt!) und die SPD (Wie bitte?).

Die CDU hat zwar geantwortet, aber die Antworten sind, wenn man nur ein bisschen Ahnung vom Leben behinderter Menschen hat, teilweise fast komisch. Frage 6 zum Beispiel behandelt die Frage nach dem Zugang zu Gebärdensprachdolmetschern: Sollen alle Behörden, Krankenhäuser, Frauenhäuser und andere wichtige Dienstleister schnell und ohne komplizierten Papierkrieg auf Gebärdensprachdolmetscher zugreifen können, wobei die Kosten automatisch durch neue Finanzierungsstrukturen übernommen werden würden?

Die CDU verweist in ihrer Antwort auf nicht weniger als auf das Bundesbehindertengleichstellungsgesetz (BGG). Naaaaa? Richtig bemerkt. Krankenhäuser, Frauenhäuser und die meisten anderen Dienstleister sind keine Einrichtung des Bundes. Das Gesetz gilt hier gar nicht. Setzen sechs.

Die FDP hat bei zwei der Antworten einfach mal Copy/Paste gemacht und zeugt auch ansonsten nicht wirklich von Kompetenz bei dem Thema. Merkt ja keiner!

Und die LINKE und die Grüne haben zwar interessante Antworten, aber in ihrem Wahlkampf finden sich die Themen so gut wie nicht wieder. Die LINKE hat ihrem einzigen rollstuhlfahrenden Abgeordneten Ilja Seifert, einer Galionsfigur der deutsche Behindertenbewegung, einen so schlechten Listenplatz verpasst, dass er nur schwer wiedergewählt werden wird.

Die PIRATEN-Antworten zeugen immerhin davon, dass viele behinderte Menschen bei ihnen aktiv sind. Das hat sie aber nicht davon abgehalten, ihr Konzept zur Behindertenpolitik nicht rechtzeitig vor den Wahlen in ihr Programm zu schreiben, sondern einen völlig verunglückten Satz reinzudrücken, weil andere Themen auf dem Parteitag irgendwie wichtiger waren.

Nicht sehr schlau

Ja, man kann so Politik machen, es ist nur nicht besonders schlau. Denn wem 20% der Bevölkerung zu wenig sind, sich wirklich mal damit zu befassen, was die Leute bewegt und was geändert werden muss, der darf sich über eine gewisse Politikverdrossenheit behinderter Menschen nicht wundern. So lange alle Parteien das so machen, macht das im Wahlergebnis nichts, aber die erste Partei, die sich wirklich profiliert, könnte meines Erachtens wirklich punkten.

Geht zu den Veranstaltungen!

In diesem Sinne war es gut und wichtig, dass der Rollstuhlfahrer im Publikum saß und eine Frage gestellt hat. Dann wird es schwieriger, behinderte Menschen politisch zu ignorieren. Ich möchte das immer und überall sehen, dass behinderte Menschen zu politischen Veranstaltungen gehen. Schon die Anwesenheit schärft manchmal das Bewusstsein, aber eine Frage zu stellen ist natürlich perfekt.

Behinderte Menschen müssten viel öfter ihre Abgeordneten nerven, auf allen politischen Ebenen. Wenn es normal wird, dass behinderte Menschen an der Politik teilhaben, dann wird es auch nicht mehr so einfach, behinderte Menschen von solchen und anderen Veranstaltungen einfach auszuschließen.

Journalismus, James Bond und ich

Als ich vor fast 7 Jahren nach London ging, habe ich weder damit gerechnet, an der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele teilzunehmen noch damit, nach den Spielen einmal für die BBC in James-Bond-Manier die öffentlichen Verkehrsmittel der Stadt zu testen. Aber genau das habe ich im Juli gemacht. Der Film lief vergangenes Wochenende im Frühstücksfernsehen bei BBC One und in der Sendung BBC Fast Track auf BBC World News.

Das Konzept des Films: Ex-Paralympics-Sportler Ade Adepitan und ich rasen von einer ehemaligen Olympiastätte zu einer London2012-Olympiastätte – er mit dem Handbike, ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Politik betont immer wieder die Nachhaltigkeit der Spiele und wie viel sich seitdem in London geändert hat. Das haben wir getestet. Das Ergebnis seht Ihr hier:

Ade brauchte rund 30 Minuten weniger als ich. Ich war bei 30 Grad und einer irren Hitze in der U-Bahn fast zwei Stunden unterwegs, musste zwei Busse und zwei U-Bahnen nehmen um barrierefrei von A nach B zu kommen – eine Strecke für die man als nicht behinderter Passagier rund 45 Minuten gebraucht hätte.

Das Team

Um diesen Film machen zu können, hatten wir eine Armee an Leuten um uns herum. Ich habe schon viel fürs Fernsehen gearbeitet, in Deutschland und in UK, aber das war wirklich auch für BBC-Maßstäbe ziemlich cool. Wir hatten mehrere Kameraleute und Producer. Vor Ade fuhr ein Team mit einem Audi, in dessen Kofferraum eine Kamera und ein Kameramann saß. Außerdem hatte Ade eine James-Bond-mäßige Kamera an seinem Bike und ein Mikrofon.

Die Gadgets

Ich hatte ebenfalls eine Kamera am Rollstuhl. Die war kaum größer als ein Daumennagel. Die hatten wir mit Black Tack (das ist so schwarzes Kaugummiband) auf Kniehöhe meines Rollstuhls festgemacht. Zudem hatte ich ein Mikrofon auf der Brust. Ein Kameramann hatte ein Hemd mit einem Knopf, in den eine winzige Kamera eingebaut war. Die Kabel waren unter dem Hemd, der Kontrollmonitor in einer Umhängetasche. Eine Producerin hatte eine Kamera, die ungefähr so groß war wie eine übergroße Streichholzschachtel in der Hand. Und es gab auch normal große Kameras.

Der Grund für unser James-Bond-Auftreteten war, dass die BBC von den Verkehrsbetrieben niemals eine Drehgenehmigung für so einen Film bekommen hätte und es natürlich möglichst authentisch sein sollte. Kein Mitarbeiter hätte mich einfach stehen lassen, wie es in dem Film zu sehen ist, wenn sie gewusst hätten, sie werden gefilmt. Und bestimmt hätten sie kein ungeschultes Personal da hingestellt.

Journalismus zum Thema Barrierefreiheit mit richtig coolen Gadgets, bei strahlendem Sonnenschein und einem klasse Team – das hat richtig Spaß gemacht und ich glaube, das merkt man dem Film auch an.