Archiv für 27.10.2009

Der Koalitionsvertrag und die Behindertenpolitik

So, der Koalitionsvertrag der neuen Regierung in Deutschland ist da. In Teil III gibt es sogar ein eigenes Kapitel einen eigenen Absatz zur künftigen Behindertenpolitik. Dieses lautet:

„Wir treten für eine tatsächliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben ein. Unser Ziel ist, die Rahmenbedingungen für Menschen mit und ohne Behinderungen positiv zu gestalten. Voraussetzung hierfür ist u. a. die Barrierefreiheit in allen Bereichen von Schule über Ausbildung bis zum Beruf sowie von Verkehr über Medien und Kommunikationstechnik bis hin zum Städtebau. Politische Entscheidungen, die Menschen mit Behinderungen direkt oder indirekt betreffen, müssen sich an den Inhalten der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen messen lassen. Deshalb werden wir einen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen entwickeln.
Wir wollen, dass ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen länger und lebenswerter in ihrem gewohnten Umfeld wohnen können. Das KfW-Förderprogramm zur Versorgung mit altersgerechtem Wohnraum wird weiterentwickelt.“

Das könnte auch im Koalitionsprogramm einer Rot-Grünen Regierung stehen. Man könnte fast versucht sein zu glauben, in Deutschland wird jetzt alles barrierefrei. Ich bin keine Pessimistin, aber ich fürchte, das wird nicht so kommen.

Zuerst einmal hat man jetzt wieder Zeit gewonnen. Man wartet jetzt erst einmal auf den Aktionsplan. Vor dem Aktionsplan wird es keine oder nur sehr wenig Aktion geben. Ich tippe in der Mitte der Legislaturperiode wird er dann endlich fertig sein.

Und dann passiert wieder das, was fast immer passiert: Die Politik wird sich einigen, wenig umstrittenen und leicht umzusetzenden Themen annehmen. Große wichtige Dinge werden außen vor bleiben. Einen Rechtsanspruch wird es nur in Ausnahmefällen geben.

Ich habe vor kurzem mehrere interessante Videos auf YouTube gefunden, die die Proteste vor der Einführung eines umfassenden Antidiskriminierungsgesetzes für behinderte Menschen in Großbritannien zeigen.

So ging es vor der Einführung des Disability Discrimination Acts 1995 in London zu und vermutlich hat sich das im Gesetz niedergeschlagen:

P.S.: Kann mir jemand sagen, ob man Videos bei YouTube, die einem nicht gehören, untertiteln kann? Und wenn ja, wie? Ich würde das Video nämlich gerne untertiteln.

Riskante Mobilität

Heiko Kunert hat in seinem Blog über die Risiken der Mobilität für behinderte Menschen geschrieben. Eine 64-jährige sehbehinderte Frau in Brandenburg wurde von einem Bus erfasst starb kurz darauf. Im Juni verwechselte eine blinde Münchenerin den Raum zwischen den U-Bahn-Waggons mit der Tür. Der Fahrer bemerkte nichts und fuhr los. Die 28-Jährige war sofort tot. Und in der vergangenen Woche fiel ein 30-jähriger Hamburger auf die U-Bahn-Gleise in der Station Lutterothstraße.

Ich hatte schon seit letzter Woche vor, etwas zu dem Thema zu schreiben. Ich war hier im Einkaufszentrum in Canary Wharf als es einen Feueralarm mit sofortiger Evakuierung des ganzen Zentrums gab. Das Einkaufszentrum liegt unterhalb der Erde. Der Fluchtweg führte also nach oben. Natürlich gehen, wenn es brennt, keine Fahrstühle. Es gehen auch keine Rolltreppen, wie ich jetzt weiß. Es ist nichts passiert, ich habe nicht einmal Rauch gerochen, aber mir war ziemlich schnell klar, dass ich keine gute Chance habe, wenn es wirklich brennt. Auch wenn nur ein Stockwerk zu überwinden ist. Die Menschenmassen waren so groß, ich hätte nicht mal auf dem Hintern nach oben rutschen können. Die hätten mich totgetreten.

Es gab sogar einen Sammelpunkt für Rollstuhlfahrer. Wir „versammelten“ uns zu viert, hatten aber alle nicht das Gefühl, dass unsere Rettung bald bevorstehen würde. Wir waren mehr oder weniger „geparkt“ und aus dem Fluchtweg für die anderen Leute.

Soll ich das jetzt beklagen? Was würde das bringen? Tatsache ist, das Lebensrisiko von vielen behinderten Menschen ist sicherlich höher und man muss es nicht unnötig provozieren. Aber man kann doch auch nicht jeden Tag an irgendwelche Sicherheitsprobleme denken. Ich könnte nicht einmal mehr einkaufen gehen – jedenfalls nicht mehr oberhalb oder unterhalb des Erdgeschosses. Und auch ein blinder Mensch will morgens mit der U-Bahn zur Arbeit fahren und abends in die Kneipe. Das ist es, was Mobilität und Unabhängigkeit bedeutet.

Ich denke, man muss mit einer guten Portion Realismus rangehen. Ich erwarte natürlich, dass die Feuerwehr alles tut, um mich zu retten, aber ich weiß auch, dass es ungleich schwerer ist. Bleibe ich deshalb zu Hause? Nein.

Barrierefreiheit, Geduld und Zwang

Ich lese mir gerade das Echo zum A-Tag, einer Konferenz rund um Barrierefreiheit in Wien durch, und bin unter anderem über den Vortrag von Christian Heilmann gestolpert. Gestolpert deswegen, weil ich dachte, ich wäre in eine Zeitmaschine gestiegen ins Jahr – sagen wir – 2000. Zuvor hatte ich schon auf Twitter gelesen, dass die Barrierefreiheit im Internet erst am Anfang stehe.

2000 war das Behindertengleichstellungsgesetz in Deutschland noch nicht verabschiedet, die Diskussionen darum liefen auf Hochtouren. Klar war damals aber schon, das Internet muss in einem Gesetz vorkommen. Die Barrierefreiheit muss sich auch auf das Internet beziehen.

Jetzt haben wir das Jahr 2009. Das Behindertengleichstellungsgesetz ist seit 2002 in Kraft, mit ihm die BITV. Zudem gibt es ein Antidiskriminierungsgesetz in Deutschland, ein Behindertengleichstellungsgesetz in Österreich, in UK das DDA, in den USA das ADA und die Section 508, die Barrierefreiheit im Internet regelt. Und zudem viele viele regionale Gesetze und Gesetze in anderen Ländern. Und dann lese ich tatsächlich von Geduld, die man mit den Entwicklern und Designern haben müsse!? Davon, dass man Barrierefreiheit nicht von oben herab verordnen dürfe. Und frage mich: Huch? Habe ich was verpasst? Hat jemand all die oben genannten Gesetze und Richtlinien außer Betrieb genommen? Es ist doch bereits verordnet. In noch nicht allen Bereichen und Ländern, aber wir stehen definitiv nicht am Anfang.

Und dann die Sache mit der Geduld: Ich bin definitiv kein ungeduldiger Mensch. Das kann ich mir gar nicht erlauben. Ich warte ständig auf irgendwas: Dass mir jemand den Seiteneingang aufmacht, dass die Behindertentoilette frei wird, dass mich jemand wegen eines Interviews zurückruft. Mir jemand hilft. Und ich behaupte mal: Vielen anderen behinderten Menschen geht es ähnlich. Wir warten ständig auf irgendwas. Und eben auch auf Gesetzgebungen, die uns den Zugang zur Gesellschaft sichern.

Es gibt so viele Bereiche, in denen ich mir mehr ungeduldige behinderte Mitbürger wünschen würde. Mit Geduld bringt man keinen amerikanischen Supermarktkonzern dazu, seine Webseite barrierefrei zu machen. Mit Geduld hätte es in Deutschland kein Behindertengleichstellungsgesetz samt BITV gegeben. Mit Geduld hätte ich mein Studium heute noch nicht beendet, weil kein Raum verlegt worden wäre.

Designer sind kreative Menschen und sollten diese Kreativität auch nutzen. Aber sobald man etwas „für die Gesellschaft“ entwickelt, also eine große Bank-Webseite zum Beispiel oder ein Informationsangebot, dann kann man sich nicht nur auf Kreativität verlassen. Dann geht es darum, möglichst vielen Menschen Zugang zum Angebot zu eröffnen, eben auch blinden Menschen, Leuten mit motorischen Einschränkungen oder auch gehörlosen Menschen. Sich dabei allein auf das Good Will der Designer zu verlassen, ist ziemlich blauäugig. Es stimmt, es gibt viele Menschen, die sich für das Thema Barrierefreiheit im Internet (und in der realen Welt) begeistern. Aber es wird immer Leute geben, die Verantwortung tragen und sich dennoch nicht dafür interessieren oder es sogar ablehnen. Es gibt Kreative, die sich nur für das Kreative interessieren und nicht dafür, ob die Seite irgendjemand lesen kann.

Ich hatte mal das zweifelhafte Vergnügen mit einem angesehenen Architekten in einem Bauausschuss zu sitzen. Der erzählte uns ständig von der „Schönheit der Treppe“ und warum man auf Stufen in keinem Fall verzichten dürfe, schon aus Designgründen. Dass man auch ohne Stufen schönes Design entwickeln kann, wollte er nicht hören. Letztendlich hat ihn die Bauordnung indirekt in die Schranken gewiesen. Es ging um ein öffentliches Gebäude.

Ich glaube also nicht daran, dass man jeden Designer und jeden Entwickler nur über „gut Zureden“ erreicht. Und auch in kreativen Berufen muss man damit leben, dass man nicht für die Kunst, sondern für den Benutzer entwirft und entwickelt. Und dass der Benutzer eine Behinderung haben kann, gehört durchaus dazu.

Ja, ich bin für Inspiration und Überzeugungsarbeit. Aber ich bin nicht naiv. Dafür stehe ich zu oft vor Stufen, für die es „eigentlich längst eine Rampe hätte geben sollen“ oder Menschen, die sich für nicht zuständig erklären. Ich bezweifele, dass die IT- und Designmenschen per se bessere Menschen sind und Gesetze und Urteile nicht brauchen. Ich denke mittlerweile sogar: Es ist mir egal, warum etwas barrierefrei ist – aus Empathie oder aus Zwang – hauptsache ich kann patizipieren. Das hält mich ja nicht davon ab, besonders engagierte Menschen und Projekte zu würdigen.

Das Benehmen von Otto Normalneugieriger

Mir ist gerade etwas passiert, was mir schon Jahre, vielleicht sogar ein ganzes Jahrzehnt nicht mehr passiert ist: Ich wurde von einer wildfremden Person ohne irgendeinen Zusammenhang gefragt, warum ich im Rollstuhl sitze. Dabei ist mir aufgefallen, wie lange mir das schon nicht mehr passiert ist und wie sich das Verhalten von Otto Normalneugieriger in den letzen Jahren verbessert hat.
Ich sitze gerade bei Starbucks in San Jose (Kalifornien) und die Konversation lief so ab: Ansprache von hinten. Ich drehe mich um. Ein junger Typ, vielleicht Mitte 20, fragt mich:
„Ist die Wifi-Verbindung okay?“
Ich: „Ja, völlig in Ordnung.“
Er: „Unfall?“
Ich: „Nein.“
Er: „Ah, etwas anderes?“
Ich: „Ja.“
Ende der Konversation. Ich drehe ihm demonstrativ den Rücken zu.

Sowas kam, als ich noch zur Schule ging, fast täglich vor. Unterdessen hat sich das Verhalten der Otto Normalneugieriger wirklich gebessert, fiel mir dann heute auf. Sowas gibt es so gut wie gar nicht mehr. Früher waren es oft ältere Frauen, die mich auf der Straße ansprachen: „Warum sitzt Du denn im Rollstuhl?“. Wenn ich gut drauf war, habe ich ihnen bereitwillig Auskunft gegeben und sie anschließend gefragt, wie alt sie denn seien. Sie müssten ja schon recht alt sein dem Aussehen nach zu urteilen. Würde mich mal interessieren… Da war die Fragerunde dann meist schnell beendet.
Ich bin auch ein ziemlich neugieriger Mensch, käme aber nie auf die Idee, wildfremde Leute auf der Straße, bei Starbucks oder sonstwo nach ihren Behinderungen, Krankheiten, Alter, Eheproblemen und sonstigen persönlichen Dingen auszufragen. Aber manche Leute haben wohl echt kein Benehmen.