In Hessen wird einem Mann, der nach einem Motorradunfall Pflege benötigt und im Rollstuhl sitzt, vom örtlichen Sozialamt die Assistenz verweigert. Man zahle lediglich eine Heimunterbringung. Dass der Mann verheiratet ist und damit von seiner Frau getrennt leben müsste, interessiert den Behördenleiter nicht.
In Berlin wird einem Rollstuhlfahrer der Theaterbesuch zur Hölle gemacht. Er könne unmöglich unangemeldet ins Theater gehen, wird ihm gesagt. Als er sich weigert, wieder zu gehen, und einen nicht barrierefreien Platz einnimmt, droht man, die Polizei zu rufen, obwohl er eine Eintrittskarte hat.
In Münchenweigert sich das Arbeitsamt einem gehörlosen Auszubildenden die Gebärdensprachdolmetscher für die Berufsschule zu stellen. Er verliert daraufhin seinen Ausbildungsplatz. Als er wieder einen neue Stelle findet, bleibt das Amt bei seiner Auffassung und schreibt, er solle am Blockunterricht an einer Gehörlosenschule in Essen teilnehmen. Er habe kein Recht, in München eine Berufsschule zu besuchen.
Seit Wochen habe ich mich darauf gefreut, in Frankfurt ins Kino zu gehen. Ich wollte unbedingt Hape Kerkerlings neuen Film „Horst Schlämmer – Isch kandidiere“ sehen. Ich bin gerade für zwei Tage in Frankfurt und hatte das fest eingeplant.
Ich fuhr also zur Hauptwache mit dem Ziel Kino. In Frankfurt ins Kino zu gehen ist als Rollstuhlfahrerin sowieso eine kleine Mission. Es gibt nicht so viele barrierefreie Kinos, das weiß ich noch aus Jugendzeiten als ich mit Freunden öfter nach Frankfurt gefahren bin. Jemand empfahl mir das CineStar-Kino am Eschenheimer Turm. Es ist ein relativ modernes Kino in einem alten Gebäude. Ich kam dort an und es war Kinotag. Dementsprechend war der Andrang. Aber die Anzeige sagte mir, es seien noch 107 Karten für Horst Schlämmer verfügbar. Ich war also optimistisch, noch eine zu bekommen. An der Kasse angekommen, fragte mich die Kinokassenfrau, ob ich alleine ins Kino ginge. Ich sagte „Ja“ und sah an ihrem Gesicht, dass das ein Problem war.
Sie sagte mir, alle Kinos, in denen der Film laufe (an dem Abend gab es vier Vorstellungen) seien nicht barrierefrei – mit einer Ausnahme. Ein Saal sei zugänglich. Dort gebe es nur einen Rollstuhlplatz und der sei vergeben an einen anderen Rollstuhlfahrer. Mit Begleitung sei es aber kein Problem. Ich ahnte schon, dass es weniger ein Platzproblem als irgendeine bescheuerte Vorschrift war und sagte ihr: „Wissen Sie, ich lebe in England. Dort läuft der Film nicht. Ich habe mich seit Wochen darauf gefreut, den Film zu sehen, wenn ich für zwei Tage in Frankfurt bin.“ Ihre Antwort: „Schauen Sie doch einen anderen Film.“ Ich: „Ich glaube, Sie haben mich nicht verstanden. Ich möchte diesen und keinen anderen Film sehen und verstehe nicht, warum ich mit Begleitung plötzlich Platz da wäre. Sie murmelte irgendwas von Sicherheitsvorschriften.
Aha, wieder was gelernt: Ich darf also in Deutschland Alkohol trinken, Auto fahren, an den Wahlen des Deutschen Bundestags teilnehmen und mich wählen lassen. Ich könnte sogar Bundeskanzlerin werden. Aber ich darf in Frankfurt nicht alleine ins Kino. Ja nee, is klar.
Meine Empörung erweichte die Frau und sie sagte, sie würde mir eine Karte verkaufen, aber sie glaube nicht, dass mich die Security in den Saal lassen würde. Sie kenne aber die Regeln nicht so ganz genau.
Ich habe zwar nur ein paar Semester Jura im Nebenfach studiert, aber ich wusste, ich hatte gewonnen. Kam doch mit dem Verkauf der Karte ein Vertrag zustande. Soviel wusste ich. Und selbstverständlich nahm ich mir vor, auf Vertragserfüllung zu bestehen und den Aufstand des Jahrhunderts zu machen, sollte man mich nicht in den Saal lassen.
Als ich bei der Security ankam, interessierten die sich gar nicht für mich. Fragten mich nur, ob sie mir die Tür zum Saal aufmachen sollten.
Als ich reinkam, traute ich meine Augen nicht: Es gab überhaupt keinen Rollstuhlplatz. Nicht einen einzigen. Auch die andere Rollstuhlfahrerin stand mitten im Gang zwischen den zwei Notausgängen. Es war einfach eine leere Reihe, in die 10 Rollstühle gepasst hätten. Hätte ich übrigens eine nicht behinderte Begleitung gehabt, hätte diese weit über- oder unterhalb in einer anderen Reihe Platz nehmen müssen, so wie jetzt der Mann der Rollstuhlfahrerin neben mir.
Aber am Ende zählt ja – frei nach Helmut Kohl – was hinten raus kommt und ich habe ich den Film gesehen. Horst Schlämmer wäre stolz auf mich. Weisse bescheid!
Ich habe mir endlich mal wieder Urlaub gegönnt und war im Süden Englands. De facto kenne ich das Land, in dem ich jetzt seit fast drei Jahren lebe immer noch nicht richtig, auch wenn mir viele britischen Londoner versichern, sie kennen auch kaum mehr als ich von Großbritannien. Und nach einem einwöchigen Trip durch Südengland muss ich sagen, ich lebe in einem sehr schönen Land. Und in einem relativ barrierefreien noch dazu. Wir haben selbst in den kleinsten Käffern an der Küste immer eine barrierefreie Toilette gefunden. Aber der Reihe nach:
Brighton
Brighton liegt weniger als eine Autostunde von uns entfernt. Das Meer ist somit sogar näher als in Hamburg. Brighton ist das größte Seebad Englands und machte auf mich einen sehr studentischen Eindruck. Mein erster Eindruck war schon sehr positiv: Wir fanden problemlos einen Behindertenparkplatz ohne viel zu suchen. Wir übernachteten im Premier Inn Hotel, eine der größten Budget-Hotelketten in Großbritannien. Ich hatte noch nie bei Premier Inn übernachtet. Wir waren aber so zufrieden, dass wir auch auf der weiteren Reise öfter in Premier Inns übernachtet haben. Ungewöhnlich fand ich, dass sie zwar ein barrierefreies Bad mit Griffen hatten, aber eine Badewanne statt einer berollbaren Dusche, dafür mit vielen Griffen. Ich weiß, dass das vielen Rollstuhlfahrern Probleme bereitet. Naja, für mich war das aber okay. Brighton selber ist ziemlich barrierefrei. Es gab genug öffentliche barrierefreie Toiletten, die Restaurants hatten mobile Rampen zum Anlegen. Aber am meisten beeindruckt hat mich der Royal Pavillion, der für ein so prunkvolles Gebäude aus dem frühen 19. Jahrhundert relativ barrierefrei war. In der Audiotour wurde sogar erklärt warum: George IV konnte irgendwann nicht mehr gut laufen und ließ alle Zimmer im Erdgeschoss einrichten. A propos barrierefrei: Es gab sogar eine spezielle Audiotour für blinde Besucher, in denen die einzelnen Zimmer beschrieben wurden.
Poole
Nachdem uns Portsmouth nicht so gut gefallen hat und außerdem regnete, sind wir einfach weiter nach Poole gefahren. Nach der guten Erfahrung mit der Premier Inn-Kette, sind wir auch dort wieder in ein Hotel von ihnen und wurden nicht enttäuscht. Auch in Poole gab es Behindertenparkplätze, die problemlos zu finden waren. In der Touristeninfo haben wir uns mit Informationen über die Region eingedeckt und sind danach thailändisch essen gegangen. Allerdings war es nicht ganz so einfach, ein barrierefreies Restaurant zu finden. Poole ist nicht so der Hit. Der Strand ist sehr schön, aber die Stadt selbst ist eher langweilig, fand ich.
Eine Broschüre brachte uns auf die Idee, auf die Isle of White zu fahren. Es gab super günstige Fährangebote und so sind wir am nächsten Tag nach Lyminton gefahren, einem kleinen Ort an der Küste. Die Hauptstraße haben wir uns gar nicht erst angesehen – zu steil. Aber unten am Hafen war es sehr nett.
Es gab kleine Läden, man konnte Eis essen und die Schiffe beobachten während man auf die Fähre wartete. Bislang waren alle Autofähren, die ich hier benutzt habe, total barrierefrei. So auch diese. Man muss den Leuten, die am Anfang kontrollieren sagen, dass man Rollstuhlfahrerin ist, dann schicken sie einen an den Rand oder in eine spezielle Reihe, um sicherzustellen, dass man einen Platz in der Nähe des Lifts bekommt und genug Platz zum Aussteigen hat. Das hat sowohl auf der Hin- als auch auf der Rückfahrt super funktioniert. Sie hatten uns auch angeboten, im Auto sitzen zu bleiben, aber das wollten wir nicht.
Isle of Wight
Auf der Isle of Wight haben wir kein Zimmer mehr im Premier Inn bekommen und sind stattdessen zu Travelodge, eine andere Budget-Kette mit etwas schlichteren Zimmern. Ich war mal in Wales und habe in einem Travelodge-Hotel übernachtet. Das Zimmer auf der Isle of Wight sah identisch aus wie das in Wales. Einfach, aber barrierefrei. Parken war auf der ganzen Insel kein Problem. Abends waren wir in einem uralten Pub am Hafen von Newport – umgebaut mit Rampe und barrierefreier Toilette. Das finde ich jedesmal faszinierend: Da gibt es hunderte Jahre alte Gaststätten und die haben eine barrierefreie Toilette. Und dann gibt es Lokale, die weit weniger Probleme hätten, eine einzurichten und die machen es nicht. In dem Pub waren dann auch gleich noch andere Rollstuhlfahrer.
Swanage
Auf Empfehlung sind wir am nächsten Tag weiter nach Swanage gefahren. Swanage symbolisiert für mich einen Urlaubsort, der einfach nichts richtig gemacht hat in Bezug auf Barrierefreiheit. Wir kamen in Swanage an und hatten schon Probleme einen Parkplatz zu finden. Es gab kaum Behindertenparkplätze. Als wir dann endlich einen gefunden hatten, durfte man auf diesem nur zwei Stunden stehen bleiben und musste bezahlen, obwohl es ein Parkplatz der Stadt war und kein Privater. Der Hammer war aber, dass ich an die Parkautomaten nicht rankam, weil eine Stufe davor war.
Der Bürgermeister dieses Ortes wird noch Post von mir erhalten. So kurbelt man den Tourismus sicher nicht an. Und das hatte sich wohl auch rumgesprochen: Während es in wirklich jedem Küstenort auffallend viele behinderte Menschen gab, die dort Urlaub machten, waren Swanages Urlauber durch und durch nichtbehindert. Es gab leider keine Hotelketten am Ort und so mussten wir uns auf die Kompetenz der Touristeninfo verlassen. Die Frau wirkte recht ratlos als wir ankamen. Sie hatte nicht einmal eine Liste mit barrierefreien Unterkünften, telefonierte etwas halbherzig rum und riet uns dann, es in einem anderen Ort zu versuchen. Das nenne ich lokale Wirtschaftsförderung! Wir haben Swanage dann auch schnell wieder verlassen und sind zurück nach Poole gefahren, diesmal in ein anderes Premier Inn-Hotel. Aber eine Einrichtung hat mich aber in Swanage beeindruckt: Eine alte aber barrierefreie Bahn.
Wir kamen drei Minuten vor Abfahrt des Zuges an, kauften schnell eine Fahrkarte und ruckzuck legte der Schaffner eine Rampe an.
Ich habe mich wirklich gefragt, wieso das eigentlich nicht immer so sein kann. Wir sind mit der Bahn bis Corfe Castle gefahren, einem Ort mit 1500 Einwohnern, einer Burg, ein paar Pubs und – natürlich – einer Behindertentoilette.
Weymouth
Eigentlich wollten wir schon nach Hause fahren, aber das Wetter war so schön und so entschieden wir uns dafür, noch ein bisschen westwärts zu fahren. Wir kamen nach Weymouth, das uns so gut gefiel, das wir dort blieben. Die Touristeninfo von Weymouth war das komplette Gegenteil zu der in Swanage. Das Premier Inn war ausgebucht und so gingen wir wieder in die Touristeninfo. Dort begrüßte uns ein Plakat mit angebotenen Dienstleistungen für behinderte Urlauber: Es gab eine Liste mit barrierefreien Unterkünften, eine Broschüre mit barrierefreien Einrichtungen, einen Stadtplan für Rollstuhlfahrer und vieles mehr. Die Hotelliste telefonierten wir dann einfach ab und schon die zweite Unterkunft auf der Liste hatte ein barrierefreies Zimmer frei. Während unseres Aufenthalts in Weymouth sind mir sicherlich 30 Rollstuhlfahrer begegnet: Alte und Junge, Leute auf Scootern, mehrfachbehinderte Menschen an Beatmungsgeräten und Aktivsportler. Der Ort hat sich auf behinderte Urlauber eingestellt und die wissen das offensichtlich zu schätzen. Der Stadtplan für Rollstuhlfahrer verzeichnete sage und schreibe 14 Behindertentoiletten.
Das war sicher nicht die letzte Tour, die wir auf diese Weise gemacht haben. Es ist einfach toll, einfach dahin zu fahren, wo man hin möchte und dort zu bleiben, wo es einem gefällt. Und ich fand sehr interessant zu sehen, was man als Küstenort, der vom Tourismus lebt, mit ein bisschen Mitdenken machen kann. Ich bin übrigens immer noch beeindruckt von der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Briten. Das macht das Reisen hier so angenehm. Wenn wir irgendwo standen und auf die Karte schauten, kam sofort jemand und fragte „Do you need a hand?“. Also verloren gehen kann man hier nicht.