Archiv für 22.9.2008

Im Zweifel allein

In der Süddeutschen ist ein sehr guter Artikel über eine Frau, die im sechsten Monat ihr behindertes Kind abgetrieben hat. Das Kind hatte Spina Bifida und offensichtlich niemanden, der ihr beigestanden oder sie gut beraten hätte. Warum so viele Männer sich dünne machen, wenn es Probleme gibt, werde ich nie verstehen.

Es kommen kaum noch Kinder mit Spina Bifida auf die Welt. Das hat zum einen mit einer besseren Vorsorge zu tun (Schwangere nehmen genug Folsäure zu sich), aber auch weil fast alle Kinder nach der Diagnose „Spina Bifida“ in Deutschland abgetrieben werden. Ich bin ziemlich sicher, dass das nicht sein müsste, wenn die Eltern besser beraten würden und im Entscheidungsprozess mit jemandem mit Spina Bifida reden könnten. Ich kenne viele Menschen, die Spina Bifida haben. Das Wort „Leid“ kommt mir bei keinem der Leute in den Sinn. Dass das Kind nicht leidet war aber der Hauptgrund für die Abtreibung der Frau, unter der sie jetzt selber leidet.

In der deutschen Botschaft

Ich hatte das Vergnügen gleich zwei Mal in dieser Woche in der Residenz des deutschen Botschafters in London zu Gast zu sein – einmal zum Hintergrundgespräch mit anderen Journalisten und einmal heute abend zu einer Ausstellungseröffnung.

Dass die deutsche Botschaft baulich eine Herausforderung ist, hatte ich ja bereits schon einmal berichtet. Aber ich kann Entwarnung geben: Ich kann zwar immer noch keinen Pass in der Passstelle beantragen, aber ich könnte Botschafterin werden, denn in die Residenz des Botschafters kommt man auch als Rollstuhlfahrerin – man muss nur wissen wie.

Manchmal denke ich, mein Leben wäre erheblich langweiliger, wenn ich zu solchen Terminen einfach mal durch den Haupteingang gehen würde. In den letzten Tagen hatte ich einen sehr netten Mailwechsel mit dem Protokoll der Botschaft. Das sind die Herrschaften, die dafür sorgen, dass solche Veranstaltungen auch wirklich so ablaufen, wie das vorgesehen ist (selbst wenn ich daran teilnehme). Man bot mir an, mich die Treppen hochtragen zu lassen oder eine Odyssee durch den Keller auf mich zu nehmen. Und wer mich kennt weiß, dass ich lieber durch irgendwelche Keller gehe als mich tragen zu lassen – vor allem, wenn es solch repräsentative Keller sind.

Gestern habe ich mich also über die Klingel gemeldet und ein sehr netter Herr kam und stellte sich als Praktikant vor. Er war damit beauftragt worden, mir den Weg durch den botschaftlichen Untergrund zu weisen. Der Weg ging über zwei Lieferantenrampen (Steigung ca. 12%), vorbei am Pausenraum der Fahrbereitschaft. Dazwischen mussten diverse Türen per Gegensprechanlage geöffnet werden. Das ganze hatte etwas vom Schließsystem von Stuttgart-Stammheim. Sehr beeindruckend! Irgendwann standen wir dann vor einem kleinen Fahrstuhl. Man hatte allerdings vergessen, dem Praktikanten den Schlüssel für den selbigen zu geben, aber der Caterer half aus. Und mit dem kleinen Fahrstuhl fuhren wir dann nach oben in die Residenz. Ein sehr beeindruckendes Gebäude mit viel Gold, Teppichen und Ölgemälden. Ich war pünktlich im Haus, alles hatte geklappt und war gut organisiert. Man hatte sogar einen Stuhl am Tisch weggenommen.

Nun war ich heute wieder in der Botschaft zu einer Ausstellungseröffnung. Die Einladung kam direkt nach der Veranstaltung gestern. Ich mailte zurück, dass ich wieder den Kellerweg nehmen würde, erhielt aber keine Antwort. Gemeinsam mit meiner Praktikantin (nicht nur die Botschaft, auch ich habe eine Praktikantin) ging ich dann wieder zur Klingel. Diesmal waren die Sicherheitsleute aber nicht vorbereitet auf mein Kommen. Jemand kam runter und sagte mir, man habe keinen Schlüssel für den Keller der Residenz, aber man kenne einen anderen Weg. Irgendwo im Hauptgebäude gebe es einen Hublift. Nachdem wir alle Stockwerke abgesucht hatten (ich kenne das Gebäude unterdessen wie meine Westentasche), haben wir tatsächlich einen Hublift zur Residenz gefunden. Und ich habe den Evakuierungsfahrstuhl des Botschafters kennen gelernt – da kann man den Botschafter in den Keller befördern, wo er dann in Sicherheit gebracht werden kann. So etwas erfährt man aber nicht, wenn man als Otto-Normaljournalist den Haupteingang benutzt. Und man erfährt auf solch einer Odyssee mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit kleine Anekdoten aus dem Innenleben solch einer Organisation.

Behinderte Menschen in der DDR

Die taz hat ein sehr ausführliches Porträt über Matthias Vernaldi geschrieben, der in der DDR eine Kommune zusammen mit anderen behinderten Menschen gründete und von der Stasi überwacht wurde. IM war sein Arzt. Sehr lesenswert!

Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen

Wenn man in Deutschland einen Menschen mit geistiger Behinderung mit Hakenkreuzen beschmiert, wird das vom Staatsschutz wegen „der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“ verfolgt. In Großbritannien wäre das ein Disability Hate Crime. Ist es in Deutschland wirklich egal, ob man eine Wand beschmiert oder einem behinderten Menschen, der sich nicht wehren kann, so etwas antut?

Die Bahn kommt… richtig gut

Ich sitze gerade im ICE von Hamburg nach Berlin und muss sagen, die Bahn überrascht mich seit ich angefangen habe, diese Reise zu planen. Alles fing damit an, dass ich gestern festgestellt habe, dass man jetzt stündlich mit dem ICE nach Berlin fahren kann. Als ich noch in Hamburg wohnte, ging das nur alle zwei Stunden.

Dann habe ich die Mobilitätszentrale der Bahn angerufen. So heißt die Hotline, bei der man als Rollstuhlfahrer Assistenz beim Ein- und Aussteigen anfordern kann. Ich hasse diese Anrufe, denn als ich dort zuletzt angerufen habe, saß dort unfreundliches und unflexibeles Personal, man musste teilweise ewig warten bis einer dran ging und das Gespräch dauerte ewig. Jetzt ging das plötzlich alles ratzfatz. Die Frau war super nett, änderte in Windeseile meine Daten und bedauerte, dass ich mit einem „Nutella-Ticket“ (das ist so ne Promotionaktion, bei der man 25% beim Fahrschein spart, wenn man ein Nutellaglas kauft) die Fahrkarte leider nicht telefonisch buchen kann.

Ich kam dann heute morgen am Servicepoint an. Ein total netter Mitarbeiter brachte mich zum Bahnsteig und wir unterhielten uns über die Bahn und die Barrierefreiheit. Er erzählte mir, dass ab 2010 die ersten ICEs mit fahrzeuggenbundener Einstieghilfe eingesetzt werden. Das heißt, der Zugbegleiter ist in der Lage, die Einstieghilfe zu leisten und man braucht kein Personal mehr auf den Bahnsteigen und eine Hebebühne, die umständlich an den Zug geschoben wird. Dann muss man sich theoretisch auch nicht mehr anmelden, denn der Zugbegleiter läßt einen dann einfach mit der Einstieghilfe in den Zug.

Ich habe dann noch mit zwei weiteren Mitarbeitern gesprochen und ich bin ziemlich sicher, die hatten alle eine Serviceschulung für den Umgang mit behinderten Kunden. Alle waren sehr freundlich, haben mich mit Namen angesprochen, informierten mich über meine Zugfahrt und vor allem, nahmen sie mich als Kundin wahr und nicht als Problem. Mein größter Hassfaktor beim Bahn fahren in Deutschland bislang waren immer die Mitarbeiter. Es verging kaum eine Zugfahrt, bei der ich nicht angeblafft wurde oder man mich behandelte wie ein IC-Kurierpaket und nicht als Mensch. Ein Servicemitarbeiter schrie mal über den ganzen Bahnsteig zum Zugbegleiter: „Hey, wir haben hier noch zwei Probleme: Ein IC-Kurierpaket und den Rollstuhl da.“ „Der Rollstuhl“ war natürlich ich.

Dann fuhr der Zug ein. Der Servicemitarbeiter kam mit dem Hublift und sagte noch, ich soll nicht zu früh drauf fahren. Die Dinger seien ja wir Käfige. Der ICE würde schon warten und ich müsse mich nicht beeilen. „Serviceschulung“, dachte ich wieder. Früher wollten die Mitarbeiter meist, dass man schon 10 Minuten vor Abfahrt des Zuges auf die Hebebühne fährt. Vielleicht, damit man nicht wegläuft? Keine Ahnung.

Im Zug angekommen staunte ich nicht schlecht. Die Rollstuhlplätze sind jetzt in der 1. Klasse. Wie oft wollte ich schon 1. Klasse fahren und konnte nicht, weil es dort keine Rollstuhlplätze gab. Und jetzt kann ich 1. Klasse fahren und zahle aber nur 2. Klasse. Ich sehe das als Wiedergutmachung für die letzten 15 Jahre schlechten Service an.

Eben kam dann noch eine Mitarbeiterin vorbei und fragte mich, ob ich etwas aus dem Bistro haben möchte. Ob das wohl die Vorzeichen für den Börsengang der Deutschen Bahn sind?

Sechs Länder, elf Bundesländer in sieben Tagen

Ich bin gerade auf einer in Teilen spontanen Europa- und Deutschlandtour. Ich war das erste Mal in meinem Leben in Hollenbach, auf der Beerdigung von Elke Bartz – eine sehr beeindruckende Beerdigung. So viele Rollstuhlfahrer wird Hollenbach in den nächsten 50 Jahren nicht mehr sehen wie bei Elkes Beerdigung. Es war eine sehr schöne Beerdigung, sofern man das über Beerdigungen sagen kann.

Am Samstag ging es weiter nach Marburg zu einer Hochzeit und mir ist die Umstellung von Trauern auf Feiern ziemlich schwer gefallen. Die Feier war sehr interessant, denn etwa 2/3 der Hochzeitsgäste sowie das Brautpaar waren blind. Und ich habe Marburg, den Sitz der Blindenstudienanstalt kennen gelernt. Eine für Rollstuhlfahrer grauenvolle Stadt – steil, Kopfsteinpflaster, überall Stufen. Aber malerisch schön. Ich habe gelernt, dass viele blinde Bürger am Stadtrand wohnen, in Marburg-Richtsberg und gar nicht da, wo Marburg so malerisch ist. Und auch die Blista liegt nicht in der schönen Altstadt. Aber die Kellner in den Lokalen sind blinde Gäste gewohnt. Sagen, wo das Glas steht und was auf dem Teller ist.

Jetzt bin ich nach über einem Jahr mal wieder in Hamburg und morgen fahre ich nach Berlin. Dann geht es weiter nach Dänemark und mit der Fähre von dort nach Hause. Für mich ist das ein bisschen eine Abschiedstour von Deutschland. Es ist ein bisschen stressig, aber macht mir Spaß.