Archiv für 30.3.2008

Mitdenkende Mitmenschen

Ich nehme morgen früh an einer Veranstaltung der Londoner Entwicklungsbehörde teil. Man musste sich um die Teilnahme bewerben und bei den Bewerbungsunterlagen wurde – wie überall hier – gefragt, ob man besondere Bedürfnisse hat (Essen, Barrierefreiheit etc.). Ich habe also angegeben, dass ich Rollstuhlfahrerin bin, auch wenn ich mit Sicherheit davon ausgehen konnte, dass der Veranstaltungsort barrierefrei ist. Ich habe noch keine einzige Veranstaltung hier erlebt, die mit Steuergeldern finanziert ist, die nicht barrierefrei war. Keine einzige und ich turne hier ständig auf solchen Events rum.

Nun bekomme ich heute eine E-Mail (es ist Sonntag wohlgemerkt!) von der Behörde. Sie gingen davon aus, dass ich sicherlich alles gut organisiert hätte, um zu dem Termin zu kommen. Sie möchten mir aber dennoch anbieten, wenn es für mich einfacher sei, morgen ein Taxi zu nehmen, solle ich das gerne tun. Sie würden selbstverständlich die Kosten tragen.

Nun ist die Veranstaltung an einer barrierefreien U-Bahnstation und ich wohne ja auch an einer und komme da also problemlos hin, aber alleine dass sich am Sonntag jemand Gedanken darüber macht, wie ich am Montag zu dem Termin komme, finde ich mehr als eine nette Geste. Und dann bieten sie mir auch noch ganz unbürokratisch an, meine Kosten zu übernehmen. Was es für mitdenkende und nette Menschen gibt!

Interview

Ich führe zwar bei weitem lieber Interviews als dass ich welche gebe, aber manchmal lasse ich mich überreden.

Britischer Pragmatismus

Alle behinderten Londoner und Senioren haben einen Freedom Pass, mit dem sie kostenlos Bus und Bahn fahren können. So auch ich. Seit Monaten gibt es überall Hinweise darauf, dass der Pass für alle Ende März ausläuft und man ihn frühzeitig erneuern soll. Deutsch wie ich bin, habe ich natürlich schon Monate im Voraus versucht, jawohl versucht, die entsprechenden Formulare bei meiner Gemeinde zu bekommen. Von Januar bis Ende Februar vertröstete man mich bis ich endlich den Antrag stellen konnte – vier Wochen vor Ablauf des Passes.

Nun haben wir heute den 26. März und mein Pass ist noch fünf Tage gültig. Aber immer noch nichts von meiner Gemeinde… Also habe ich da heute mal angerufen, ich hätte den Antrag doch schon vor einem Monat gestellt, seit Januar mit ihnen gesprochen und sie sollten mal voran machen.

Da sagte der Typ an der anderen Leitung: „No panic, Määääm. Transport for London weiß, wie langsam die Gemeinden sind und hat alle Pässe um zwei Monate verlängert.“ Britischer Pragmatismus vom Feinsten…

Das Hublift-Museum aka British Musuem

Ich war heute im British Museum und habe mir unter anderem die Ausstellung „The First Emperor“ angesehen (dank Werner, der sich heldenhaft um 7.15 Uhr für Karten angestellt hat). Das British Museum ist ja ein ziemlich altes Gebäude, aber dennoch ziemlich barrierefrei. Ich habe noch nie ein Gebäude gesehen, in dem es so viele Hublifte gibt wie im British Museum. Das Gebäude hat viele Ebenen, aber überall gibt es diese Lifte. Und das Beste: Sie funktionierten alle! Und sie sahen alle wirklich nicht hässlich aus und waren gut in das Gebäude integriert. Ein sehr schönes Beispiel, wie man Denkmalschutz und Barrierefreiheit unter einen Hut bringen kann.

I really admire you und andere Phrasen

Es gibt ja so Phrasen, die dienen ziemlich gut dazu „Bullshit Bingo“ zu spielen, wenn man als behinderter Mensch unterwegs ist. Sätze und Ausdrücke, die immer wieder vorkommen und meist umso dämlicher sind. Im Englischen musste ich die erst lernen, aber mittlerweile steigt meine Sammlung kontinuierlich. Die erste Bingo-Phrase, die ich als solche wahrnahm und die zu mir jemand sagte, war „You’re very brave.“ Ich kannte den Satz aus diesem Film und musste deswegen unvermittelt laut lachen, was mein Gegenüber natürlich nicht verstand.

Seit gestern ziert auch die Formulierung „I really admire you“ meine Sammlung. Das war leicht, denn die kannte ich schon aus dem Deutschen. Meist wird die Bewunderung aber eben nicht für Dinge zum Ausdruck gebracht, die wirklich bewundernswert wären, sondern für normale alltägliche Dinge wie alleine einkaufen gehen, ins Kino gehen oder wie gestern den Rollstuhl ins Auto heben.

Nachdem mich immer öfter Leute fragen, ob ich „wheelchair bound“ bin, weiß ich, dass die unsägliche Formulierung „an den Rollstuhl gefesselt“ auch die englische Sprache heimgesucht hat.

Aber die meisten Bingospieler sind ältere Menschen, denen ich das nicht so richtig übel nehmen kann und beim Rest mache ich Witze.

Learning by doing

Nachdem die erste Ausgabe meiner Zeitung verteilt ist, habe ich ein bisschen Zeit, Resumee zu ziehen. Ich habe noch nie zuvor in meinem Leben so viel gelernt wie in den letzten Monaten. Über Geschäfte machen, England, Deutschland und über mich selbst. Ich bin im Frühjahr letzten Jahres auf die Idee gekommen, diese Zeitung zu gründen. Damals war ich noch bei BBC. Es gibt in London für jede Community eine Zeitung, nur die Deutschen, Österreicher und Schweizer haben keine, dabei ist die Gruppe relativ groß (ca. 200 000 im ganzen Land) und es gibt diverse Geschäfte, die sich nicht zuletzt an deutschsprachige Kunden richten.

Wenn man im Jahr 2008 eine Zeitung gründet, ist die Anzahl der Menschen, die einen nicht für verrückt halten, relativ überschaubar. Umso wichtiger war es, selbst an das Projekt zu glauben und sich sehr darauf zu besinnen, was man wirklich will. Ich habe mir mal eine Liste mit Dingen zusammen geschrieben, die ich jedem raten würde, der sich selbstständig machen will und die mir sehr geholfen haben.

  • Glaub an Dich selbst und an Dein Produkt. Es gibt keinen wichtigeren Ratschlag.
  • Sei realistisch. Klein anfangen ist oftmals das Beste.
  • Gib alles ab, was andere besser können als Du, aber behalte die Kontrolle.
  • Man muss nicht alles können, aber man kann vieles lernen.
  • Sammele Leute um Dich herum, die Dich unterstützen. Leute, die Dir alles madig machen, helfen Dir nicht.
  • Vermeide Zeitdiebe. Man trifft sie überall, sie machen sich wichtig und am Ende kommt nichts dabei raus.
  • Man kann nicht jeden glücklich machen, auch nicht alle Kunden.
  • Hör auf Dein Bauchgefühl, inbesondere wenn Du Leute einstellst oder Verträge schließt.
  • Rede mit Deiner Zielgruppe. Früh, immer und kontinuierlich.
  • Lass Dir Ratschläge geben, aber entscheide selbst.
  • Jeder Mensch macht Fehler. Am Ende ist alles gar nicht so schlimm.
  • Hab Spaß daran, was Du tust.

Die Zeitung ist da

So, ich bin der glücklichste Mensch der Welt, denn meine Zeitung ist erschienen. Es hat alles geklappt – die Grafik, der Druck, der Inhalt, der Anzeigenverkauf und die Verteilung läuft gerade. Die Zeitungen für die Abonnenten sind schon auf den Weg gebracht.

Zeitungscover

Ich bin sehr sehr froh und erleichtert. Das Feedback ist bislang auch durchweg gut. Ich bin froh, dieses Projekt gestartet zu haben und ich bin jetzt sicher, dass es ein Erfolg wird. Jetzt wird erstmal Schlaf nachgeholt und die zweite Ausgabe wartet ja auch schon… Wenn ich ein bisschen mehr Zeit habe, berichte ich mal über meine Erfahrungen der letzten sechs Monate.

P.S.: Abonnieren kann man das gute Stück hier. Eine Liste mit Verteilstellen gibt es auch.

Zum Wohle der Volksgesundheit

Seit ein paar Minuten geht die Nachricht über den Ticker, dass Inzest in Deutschland weiterhin strafbar bleibt. Was mich sehr sehr schockiert ist nicht einmal das Urteil selbst (auch wenn ich es nicht gut finde), sondern die Begründung des Bundesverfassungsgerichts. Zitat aus der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts:

„Der Gesetzgeber hat sich zusätzlich auf eugenische Gesichtspunkte gestützt und ist davon ausgegangen, dass bei Kindern, die aus einer inzestuösen Beziehung erwachsen, wegen der erhöhten Möglichkeit der Summierung rezessiver Erbanlagen die Gefahr erheblicher Schädigungen nicht ausgeschlossen werden könne. Im medizinischen und anthropologischen, von empirischen Studien gestützten Schrifttum wird auf die besondere Gefahr des Entstehens von Erbschäden hingewiesen.“

Ich halte das Urteil wegen seiner Begründung für einen Dammbruch. Das Bundesverfassungsgericht bewertet damit das Leben behinderter Menschen als weniger wert als das von nicht behinderten Menschen. Die Verhinderung behinderten Lebens ist damit wichtiger als das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Ich muss sagen, das hätte ich in Deutschland nicht für möglich gehalten. Dass überhaupt Eugenik einmal als Begründung für eine Gerichtsentscheidung genutzt werden würde, fand ich bis heute vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte für unvorstellbar. Konsequenterweise müsste man jetzt auch allen Menschen mit dominanten Erbanlagen für bestimmte Krankheiten oder Behinderungen das Kinder kriegen untersagen. Ich bin zu tiefst getroffen und kann es gar nicht glauben.

Der Vizepräsident des Bundesverfassungsgericht sieht das übrigens ähnlich wie ich. Ich zitiere dpa:

„Der Vizepräsident des Gerichts, Winfried Hassemer, stimmte gegen die Entscheidung seiner sieben Kollegen. Seiner Ansicht nach «spricht viel dafür, dass die Vorschrift in der bestehenden Fassung lediglich Moralvorstellungen, nicht aber ein konkretes Rechtsgut im Auge hat.» «Eugenische Gesichtspunkte» – also das Risiko von Erbschäden – dürften verfassungsrechtlich nicht berücksichtigt werden. So würden andere Risikogruppen nicht mit Strafe bedroht, selbst wenn die Schädigungsgefahr noch höher sei.“

Behinderte Menschen in den Medien

Ich beobachte, seit ich hier bin, wie die britischen Medien mit dem Thema Behinderung umgehen und bin beeindruckt. Ich gebe allerdings zu, ich ignoriere die Boulevardpresse völlig, was angesichts des umfangreichen Angebots guter Tageszeitungen nicht wirklich schwer ist.

Was mir dabei besonders auffällt ist, dass behinderte Menschen hier weit öfter selbst zu Wort kommen als ich das in Deutschland wahrgenommen habe. Und offensichtlich scheint es auch eine ausreichende Anzahl an Leuten zu geben, die man als Journalist befragen kann und die auch noch schlaue Sachen sagen. Die Verbände, so mein Eindruck, machen hier professionelle Pressearbeit, was in Deutschland ganz und gar nicht der Fall ist. Viele haben nicht einmal einen Presseverteiler.

Und behinderte Menschen beteiligen sich hier viel stärker an Diskussionen, so scheint mir. Artikel wie dieser erwecken bei mir diesen Eindruck. Und die Journalisten gehen anders mit den Leuten um. Zu dem Programm der Regierung zur Gleichstellung behinderter Menschen druckte der Guardian die Meinungen verschiedener Verbände und Lobbygruppen. Ich habe mir mal den Spaß erlaubt und nachgesehen, wie oft die taz in den letzten sechs Monaten über das Behindertengleichstellungsgesetz berichtet hat. Das Wort, seine Varianten und Abkürzung ergab keinen Treffer im Online-Archiv. Das Wort DDA findet sich im Guardian Online-Archiv fünf Mal seit Oktober. Insgesamt liefert die Suche sogar 86 Treffer.

Ich habe dennoch nicht den Eindruck, dass behinderte Menschen zu wenig in den deutschen Medien vorkommen. Die Frage ist, wie sie dargestellt werden und welche Themen behandelt werden. Wie schwer es ist in Deutschland mit einem behindertenpolitischen Thema in die Medien zu kommen, kann man gerade hier nachlesen.

Ein Traum

Man wacht morgens auf, geht an den Rechner und liest folgenden Meldung:

„Die Regierung wird heute einen Handlungsplan veröffentlichen, der das Leben von behinderten Menschen verändert wird. Das betrifft auch die Verbände, die von behinderten Menschen geleitet werden. Die ‚Strategie für ein Selbstbestimmtes Leben‘ soll die Verpflichtung der Regierung unterstreichen, behinderte Menschen darin zu unterstützen, Dinge zu tun, die für nicht behinderte Menschen selbstverständlich sind. Das Strategiepapier wurde gemeinsam mit behinderten Menschen erarbeitet und hat zum Ziel, ihnen mehr Wahlmöglichkeiten und Kontrolle über die Assistenz, die sie benötigen, zu geben und ihnen einen besseren Zugang zu Beschäftigung, Verkehr, Gesundheit und Wohnangeboten zu ermöglichen.“

Die Bundeskanzlerin, die diese Initiative unterstützt, sagte:

„Wir verpflichten uns, die Idee der gleichberechtigten Teilhabe behinderter Menschen bis 2025 umzusetzen. Es ist die Vorstellung eines Landes, in dem alle Bürger als gleichberechtigte Mitbürger respektiert werden und wo jeder die Möglichkeit hat, sein Potenzial frei zu entfalten.“

In Deutschland wäre das wahrscheinlich nur ein Traum. Hier ist mir das so passiert. Und wie der Plan der britischen Regierung aussieht und was Gordon Brown wirklich gesagt hat (ohne meine freie Übersetzung), kann man hier nachlesen.