Archiv für 30.11.2007

Das Statistische Bundesamt und der 3. Dezember

Ich kann es mir so richtig vorstellen. Da stand ja dieser Tag an. Der 3. Dezember. Der Internationale Tag der Menschen mit Behinderungen. Und da wollten die Statistiker beim Statistischen Bundesamt ja auch PR-mässig nicht hinten anstehen und haben sich zusammen gesetzt und überlegt, was sie denn zu diesem Tag für Zahlen veröffentlichen. Und was lag da näher als mal nachzuschauen, was behinderte Menschen denn so kosten. Das ist ja in Deutschland immer wieder gerne ein Thema. Und siehe da, sie haben einen Posten gefunden, der zeigt, dass behinderte Menschen richtig teuer sind, aber sich der Staat nicht lumpen lässt: Die Eingliederungshilfe.

Und so haben sich die Damen und Herren Statistiker hingesetzt und folgende Pressemitteilung verfasst:

Wie das Statistische Bundesamt zum Internationalen Tag der behinderten Menschen am 3. Dezember mitteilt, wurden im Jahr 2006 in Deutschland netto 10,5 Milliarden Euro für die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII „Sozialhilfe“) ausgegeben. Mit einem Anteil von 58% an den gesamten Nettoaufwendungen der Sozialhilfe (18,1 Milliarden Euro) ist die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen damit die finanziell mit Abstand bedeutendste Hilfeart im Rahmen der Sozialhilfe. Im Laufe des Jahres 2006 erhielten 643 000 Personen Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach dem SGB XII. (…)

Dabei stellen sich an so einem Tag mir ganz andere Fragen, auf die das Statistische Bundesamt vielleicht auch eine Antwort wissen sollte. Wie viele Menschen mit einem Grad der Behinderung stehen in Deutschland im Jahr 2007 wirklich in Lohn und Brot (ohne Werkstätten und 1-Euro-Jobs)? Wie viele davon haben einen Grad der Behinderung von mehr als 75 Prozent? Wie viele Menschen finanzieren die Pflege ihrer Angehörigen, weil die Pflegeversicherung nur einen Teil abdeckt? Wie viele Gebäude im Bundesgebiet, die in Besitz des Bundes, der Länder und Gemeinden sind haben einen barrierefreien Zugang im Sinne des Behindertengleichstellungsgesetzes? Die Antworten auf diese Fragen geben weit mehr Auskunft über die Lebenssituation behinderter Menschen als die Kosten zu veröffentlichen, die sie erzeugen.

Liest man die Pressemitteilung weiter, dann findet man einen interessanten Punkt: 89% der Nettoausgaben für die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen fielen 2006 in Einrichtungen (zum Beispiel Werkstätten für behinderte Menschen) an. Was die Pressestelle wahrscheinlich als Anzeichen für einen gut funktionierenden Sozialstaat gewertet hat, halte ich für einen Skandal. Ich bin mir durchaus darüber bewusst, dass man nicht alle Einrichtungen verteufeln kann, aber dass ausgerechnet eine Leistung, die „Eingliederungshilfe“ heißt, in Einrichtungen fließt, finde ich ziemlich bemerkenswert.

Da es sich um einen internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen handelt, kann ich jetzt schön vergleichen, mit was sich die Briten an dem Tag befassen. Und ich bin ziemlich sicher, es sind nicht die Kosten, die ein Teil ihrer Mitbürger verursacht. Das fänden die Menschen hier als ziemlich „offending“.

In Greenwich ticken die Uhren anders

Ich habe direkt nach unserem Umzug nach Greenwich einen neuen Freedom Pass beantragt. Die bei der Hotline sagten, das müsse ich machen, weil sonst Ealing (meine vorherige Gemeinde) den Freedom Pass zahlt, den eigentlich Greenwich zahlen müsste. Mir ist das ja wurscht, aber Ealing war immer korrekt und schnell, also habe ich gleich in Greenwich gesagt, dass ich gerne einen neuen Pass hätte. Ich war schon mittelschwer enttäuscht als mir die Dame sagte, dieser werde mir zugeschickt. In Ealing konnte ich darauf warten. Ist ja auch keine Aktion: Foto reinkleben, Papiere checken, fertig.

Jetzt ist das bereits Wochen her und ich habe mir heute erlaubt, mal bei der Gemeinde anzurufen und zu fragen, wann sie gedenken, mir den neuen Pass zu schicken. Die freundliche Dame am Telefon sagte zu mir: „Das kann kann sechs bis acht Wochen dauern.“ Ich zeigte mich bestürzt und sagte ihr, dass ich vorher in Ealing gewohnt habe und dass die Ausstellung 15 Minuten gedauert habe. Ihre Antwort: „That’s Ealing. We are Greenwich.“ Okay, verstanden. Hier ticken die Uhren anders.

Die Deutsche Botschaft in London wird barrierefrei

Das ist für mich die Nachricht des Tages: Die Deutsche Botschaft in London wird barrierefrei. Jemand vom Auswärtigen Amt hat meinen Blogeintrag zur Situation bei der Deutschen Botschaft kommentiert und mir gesagt, dass umgebaut wird und ich zur Einweihung des neuen Eingangs eingeladen bin. Ich freue mich natürlich sehr, über den Eingang und die Einladung und überhaupt…

Radio Fritz

Wer mich mal hören und nicht nur lesen will, kann heute abend Radio Fritz in Berlin einschalten. Die Sendung Trackback läuft von 18 bis 20 Uhr und wird auch hier online gesendet. Ich spreche ein bisschen über dieses Blog.

Update: Den Podcast zur Sendung gibts hier.

Bei der Deutschen Botschaft

Heute war ich bei der Deutschen Botschaft, um mir bestätigen lasse, dass ich noch lebe. Ich hatte durch eine Stichprobe im Freundeskreis schon rausgefunden, dass die Botschaft wahrscheinlich nicht barrierefrei ist – mehr als fünf Leute haben übereinstimmende Angaben gemacht. Ich war dann doch sehr überrascht, dass ich dann ein Rollstuhleingangsschild samt Klingel sah und habe geklingelt. Es meldete sich eine Stimme, die mir sagte, dass der Eingang mir nichts nutze, der führe nur in den nicht-öffentlichen Bereich, der mit dem öffentlichen Bereich, also der Konsularabteilung, nicht stufenlos verbunden sei. Ein Schäuble-Eingang also, falls er mal nach London kommt, aber kein Eingang für mich.

Nun muss man sagen, dass dieser Teil der Deutschen Botschaft nicht 100 Jahre alt ist. Das bauliche Problem wäre durchaus lösbar. Eine Mitarbeiterin kam zu mir und sagte, ich solle an der Treppe warten, sie würde jemanden von der Konsularabteilung rausschicken. Es war wirklich saukalt und bei Regen wäre ich schon wegen des Kopfsteinpflasters da nie angekommen und hätte umdrehen müssen. Als ich mich gerade an der Treppe häuslich eingerichtet hatte, kam ein Paar mit Kinderwagen raus, die ihrem Ärger über die Stufen bei mir Luft machten. Das sei ja ne Zumutung für Leute mit Kinderwagen und Leute wie mich. Damit hatten sie durchaus recht, aber ich war wirklich der falsche Adressat. Die Treppe dort wäre durchaus überbrückbar. Mit Hublift oder was auch immer. Man muss es nur machen.

Während ich dort wartete, kamen viele Eltern mit Kinderwagen vorbei. Die Mitarbeiter der Botschaft schleppten einen Kinderwagen nach dem anderen hoch, wenn nur ein Elternteil dabei war. „Wir machen das hier den ganzen Tag,“ meinte ein Mitarbeiter zu mir. Und ein anderer sagte: „Wir sind halt nicht die Amerikanische Botschaft. Da läuft das anders.“ Dem Zweiten habe ich dann mal einen Vortrag über das Behindertengleichstellungsgesetzes des Bundes gehalten, das auch für das Auswärtige Amt gilt. Eigentlich müsste das seit 2002 auch bei den Deutschen anders laufen.

Meinen Wisch habe ich tatsächlich bekommen. Und eine Entschuldigung auch. Es sei ihnen sehr peinlich, dass ich meine Angelegenheiten vor der Tür klären müsste. Dafür haben sie mir auch noch die Verwaltungsgebühr erlassen. Dabei hätte ich die wirklich gerne gezahlt – zur Finanzierung des Hublifts.

Der ORF tappt im Dunkeln

Wer sich vor Weihnachten in Wien aufhält, kommt nicht an der Aktion „Licht ins Dunkel“ vorbei. Was sich anhört wie ein Verein für investigativen Journalismus ist in Wahrheit die jährliche Spendenaktion des ORF zugunsten behinderter Menschen. Es wird den spendenwilligen Österreichern vor Augen geführt, wie schlimm es ist, behindert zu sein. Als ich vor ein paar Jahren die Plakate zum ersten Mal in Wien sah, fragte ich einen Freund, was denn das für eine gruselige Kampagne sei und musste erfahren, es handelt sich um eine Aktion des ORF.

Nun gibt es in diesem Jahr eine Gegenkampagne, ins Leben gerufen von Franz-Josef Huainigg, Abgeordneter und Rollstuhlfahrer. Sie heißt „Nicht ins Dunkel“ und sammelt online Unterschriften gegen die Art und Weise wie die Kampagne Geld eintreibt:

„In dramatischen Fernsehspots wird den Zuseher/inne/n vor Augen geführt, wie schlimm es ist, behindert zu sein. Es geht nur um Mitleid, nicht um Rechte und Gleichstellung. Dieses Fernsehbild hat mit der Lebensrealität vieler behinderter Menschen nichts zu tun. Gleichstellung und Integration sollten vielmehr den Umgang mit behinderten Menschen bestimmen. Statt allweihnachtlich das schlechte Gewissen durch eine Geldspende zu beruhigen, sollten die Spender besser animiert werden, in ihrem Umfeld aktiv mitzuhelfen.“

„Menschen mit Behinderung sollen nicht nur als Objekte Teil der Kampagne sein, sondern diese aktiv mitgestalten. Das Prinzip der Gleichstellung und Integration soll in die Aktion „Licht ins Dunkel“ Eingang finden“, sagt Huainigg.

Und der angegriffene Verein reagiert auf diese Forderung ziemlich patzig mit einer Pressemitteilung.
Ich glaube, die Kampagnenmanager werden für nächstes Jahr umdenken müssen. Man kann nicht dauerhaft eine Kampagne fahren, die den Leuten, die davon profitieren sollen, nicht gefällt.

Anne Will und die Untertitel

Anne Will wird ab Januar mit Untertiteln ausgestrahlt. Als ich das gelesen habe, war ich ein wenig überrascht. Ich dachte nämlich, das sei längst der Fall. Ist immerhin einer der wichtigsten Talk-Sendungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.

Nur mal zum Vergleich: Die BBC wird bis April 2008 ihr gesamtes Programm untertiteln. Dafür zahlen hier im Gegensatz zu Deutschland auch gehörlose Menschen die TV Licence Fee und sind nicht befreit. 95 Prozent des Programms von BBC One und BBC Two ist bereits untertitelt. 80 Prozent des Programms von BBC Three, BBC Four, CBBC, CBeebies and BBC News 24 wird bereits mit Untertiteln angeboten. Hier ist mal eine Liste, was BBC diese Woche untertitelt.

Das ZDF untertitelt derzeit 25 Prozent seines Programms (Stand: Juni 2007). Über die ARD habe ich sehr unterschiedliche Angaben gefunden, die aber alle weit entfernt davon sind, was BBC anbietet.

Sehr lesenswert ist zu dem Thema ein Dokument des Landtages in Schleswig-Holstein aus dem Jahr 2006, das sich unter anderem mit dem NDR (3. Programm) befasst. Es wird der NDR zitiert: „Der Anteil des barrierefrei ausgestrahlten Fernsehprogramms werde sich in Zukunft von ca. 5,7 auf ca. 12 % erhöhen.“ Weiter heißt es in dem Bericht: „Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft der Hörgeschädigten (…) hat eine aktuelle zweiwöchige Stichprobe ergeben, dass der NDR 1.330 untertitelte Sendeminuten ausgestrahlt habe, was einem Anteil von etwa 7 % entspreche. Rechne man allerdings Wiederholungen heraus, sinke der Anteil auf 0,3 %. Denn der NDR untertitele als einzige aktuelle Sendung das Wissensmagazin „Plietsch“ (jeden Donnerstag um 18.15 Uhr, Dauer: 30 Minuten).“

Sorry liebe Eltern

Sorry, liebe Eltern auf der Insel… Da ist doch den britischen Behörden ein ganz blödes Missgeschick passiert: Die Daten von allen Beziehern von Kindergeld hat man auf CDs gebrannt und per Post verschickt. Und jetzt sind die Datenträger weg.

Darauf waren die Daten von 25 Millionen Einwohnern, die Kindergeld beziehen. Gespeichert waren unter anderem die Namen, Adressen, Geburtstage, Sozialversicherungsnummern und Bankverbindungen. Damit kann man in diesem Land schon ziemlichen Schaden anrichten, denn es gibt hier ein riesen Problem mit Identitätsdiebstahl. Es gibt ja keine Meldepflicht und auch keine Personalausweise. Wer hier seine Identität nachweisen will, muss einfach eine Rechnung mit Adresse beibringen.

Viele Hotlines nehmen zum Beispiel das Geburtsdatum als Sicherheitsabfrage und die Briten schreddern ihre Post, wenn dort der vollständige Name samt Adresse draufsteht, bevor ein Brief in den Mülleimer wandert. Und weil es diese Angst vor Identitätsdiebstahl gibt, ist die Empörung jetzt natürlich groß. Warum verschickt die Behörde im Jahr 2007 noch CD-Roms? Als normalen Brief! Und mit Daten des halben Landes! Schuld sind, wie immer, die Junior-Mitarbeiter. Die Frage, warum ausgerechnet diese Zugang zu diesen Datenmengen haben, wird sicher in nächsten Tagen noch gestellt.

Herzlichen Dank und Willkommen

Vielen herzlichen Dank für die vielen Glückwünsche, die mich erreichen, per Telefon, E-Mail, IM, Trackback etc. Ich habe mich sehr darüber gefreut. Hier verirren sich gerade Tausende Menschen am Tag her, was sicherlich der Medienberichterstattung geschuldet ist, die unterdessen auch in den deutschen Medien stattfindet.

Allen, die neu hier sind, ein herzliches Willkommen. Ich habe dieses Blog vor ein paar Jahren gestartet, weil ich dachte, ich müsse mal aufschreiben, was mir so passiert und was mich so umtreibt. Und weil ich mich mit anderen darüber austauschen wollte. Das hat ganz gut geklappt. Dass ich dafür jetzt einen Preis bekomme, freut mich sehr, weil das Thema Barrierefreiheit in die Öffentlichkeit getragen wird. Ich bekomme oft Mails, in denen mir Leute sagen, sie hätten sich noch nie Gedanken darüber gemacht, über das was ich so schreibe. Mich überrascht das nicht, denn das ist genau meine Erfahrung. Nicht behinderte Menschen in Deutschland wissen viel zu wenig über behinderte Menschen. Weil behinderte Menschen noch lange nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Wie auch, wenn man meist schon im Kindergarten von einander getrennt wird, spätestens aber in der Schule und man sich aufgrund der schlechten Beschäftigungsquote behinderter Menschen in Deutschland auch im Berufsleben nicht mehr wiedertrifft? Ich weiß, dass das nicht immer so ist, ich bin ja selbst die Ausnahme, die die Regel bestätigt, aber ich halte es für eine Ursache des Problems.

Ich habe, als ich bei BBC war, mal eine kleine Studie unter meinen Kollegen gemacht. Viele meiner Kollegen, die in England zur Schule gegangen sind, hatten behinderte Klassenkameraden. Die waren gewöhnt, auf Barrierefreiheit zu achten und Fragen zu stellen, wenn sie etwas nicht wussten. In Deutschland sind behinderte Menschen in vielen Lebensbereichen nicht sichtbar, was dazu führt, dass man sich ständig in einer Grundsatzdiskussion wiederfindet, ob Gebäude x oder y wirklich barrierefrei sein muss, „da arbeiten ja eh keine Behinderten.“

Wenn es in Deutschland einen gesellschaftlichen Konsens darüber gebe, dass behinderte Menschen die gleichen Teilhabechancen wie der Rest der Bevölkung haben sollten, dann dürfte in diesem Land nicht mehr darüber diskutiert werden, ob ein neues Gebäude barrierefrei wird, wieviel Prozent des Fernsehprogramms untertitelt wird, ob wir wirklich barrierefreie Webseiten brauchen, ob man wirklich den behinderten Bewerber einstellt und und und…

Derzeit werden diese Diskussionen aber tagtäglich geführt (nicht nur in Deutschland) und fallen nicht immer pro Barrierefreiheit und Teilhabe aus. Und das wiederum hat mit dem Denken über Behinderung zu tun. Wenn man davon ausgeht, dass der behinderte Mensch „das Problem“ ist und nicht die fehlende Rampe, dann wird man sich nie veranlasst fühlen, eine Rampe anzuschaffen.

I think you’re very brave

Ich bin vor kurzem gefragt worden, was die Ursache dafür sein könnte, dass viele Leute in England anders mit mir umgehen als in Deutschland. Ich habe geantwortet, ein Grud dafür könnte sein, dass viele Briten nicht meine Behinderung als die Ursache für Probleme ansehen, sondern die Umstände, also bauliche Gegebenheiten beispielsweise, die geändert werden müssen.

Jetzt habe ich einen Film entdeckt, der genau diese Einstellung propagiert, in dem er die Realtität einfach umdreht. Hier die Kurzversion:

Und hier der ganze Film in zwei Teilen: