Archiv für 30.7.2007

Rolle rückwärts

Ich behaupte ja, ganz gut Rollstuhl fahren zu können und ich nehme auch die ein oder andere Stufe mit. Als Jugendliche habe ich auch schon getestet, ob so ein Skateboardpark auch für Rollstühle geeignet ist. Aber auf die Idee, ein Backflip zu versuchen, bin ich nicht gekommen.
(Für alle die das Video unten nicht sehen können: Ein Rollstuhlfahrer springt über alle möglichen Hindernisse und macht am Ende eine Rolle rückwärts).

Diskriminierung im Urlaub und die Berichterstattung

Weil ihr behinderter Sohn Windeln trägt, wurde eine Familie von der Vermieterin einer Ferienwohnung auf Usedom wieder nach Hause geschickt. Das berichten Spiegel Online und andere.

Ich frage mich allerdings, warum ich bei meinen ehemaligen Kollegen bei dpa ohne Einordnung die Aussage der Vermieterin lese, Windeln gehörten nicht in den Hausmüll, sondern in den Sondermüll. Keine Einordnung, kein Widerspruch. Spiegel Online hat diese Aussage überprüft, als falsch dargestellt und nennt übrigens auch den Namen der Vermieterin.

Und dann steht in der Agenturmeldung noch die Regelung, dass Vermieter übermäßige Verschmutzung nicht dulden müssen. Diese Regelung hat nichts, aber auch gar nichts mit dem Urlaub behinderter Menschen zu tun. Sie in Verbindung mit inkontinenten Urlaubern zu bringen, empfinde ich als diskriminierend. Behinderte Urlauber sind nicht dreckiger als andere, auch nicht solche, die inkontinent sind. Da reicht es nicht, dass man die Verbraucherzentrale NRW darauf hinweisen lässt, dass Windeln alleine kein Kündigungsgrund sind. Stattdessen fehlt in dem Artikel komplett, dass es sich um ein Verstoß gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz handeln könnte.

Auch blinde Menschen dürfen Lehrer werden – selbst in Bayern

Weil sie das Kultusministerium in Bayern nicht zum Referendariat zugelassen hat, musste eine blinde Frau, die Lehrerin werden möchte, gegen das Land Bayern klagen. Das Ganze spielte sich nicht etwa kurz nach dem Krieg ab, sondern ist eine nagelneue Gerichtsentscheidung.

Sie hat den Gerichtsprozess gewonnen und muss so schnell wie möglich ein Referendariat zugelassen werden. Die Richter sahen durch das Verhalten des Landes ihr Grundrecht auf freie Berufswahl beeinträchtigt. Ihr Anwalt sagte, seit 1973 habe es einen derartigen Rechtsstreit nicht mehr gegeben. In Deutschland gebe es mindestens 20 bis 30 blinde Lehrer an Regelschulen.

I lost my voice

Vor kurzem war ich mal wieder bei Boots. Boots ist eine große Drogeriekette in Großbritannien. Als ich meine Ware auf die Theke gelegt hatte, um zu bezahlen, wartete ich darauf, dass mir die Angestellte den Preis nennt. Stattdessen drehte sie die Kassenanzeige zu mir und zeigte auf ein Schild. „I lost my voice“ (Ich habe meine Stimme verloren) stand dort. In den USA ist mir mal eine gehörlose Kassierin begegnet. Auch sie hatte ein Schild an der Kasse stehen, dass die Kunden darauf hinwies, dass sie gehörlos ist. Ich frage mich in solchen Situationen dann immer, ob es das in Deutschland wirklich nicht gibt oder mir nur nie begegnet ist.

Mitdenkende Bedienung

Ich komme gerade von einem netten Abend mit einer Freundin. Wir sind spontan in eine Pizzeria gegangen, in der ich noch nicht war. Als wir reinkamen, begrüßte uns die Kellnerin. Ich sagte ihr, dass wir gerne einen Tisch für zwei Personen hätten. Dann antwortete sie: „Sehr gerne. Ich möchte Sie aber darauf hinweisen, dass wir keine barrierefreie Toilette haben.“ Das fand ich so nett und aufmerksam, dass ich ihr ein gutes Trinkgeld gegeben habe. Das ist mir noch nie irgendwo passiert. Ich hatte in dem winzigen Lokal auch nicht ernsthaft erwartet, dass es eine gibt. Aber sehr netter Hinweis. Da hat mal jemand mitgedacht.

Blinde willkommen, Rollstuhlfahrer müssen draußen bleiben

Ich habe noch nie verstanden, warum das gerade einmal 10 Jahre alte Cinemaxx am Bahnhof Dammtor in Hamburg nicht komplett barrierefrei ist. Ich verstehe auch nicht, warum einige Behindertenverbände in Deutschland so wenig auf Barrierefreiheit achten, wenn es gerade nicht um ihr eigenes Klientel geht. Deshalb verstehe ich auch nicht, warum mein Partner, der blind ist, vom Blinden- und Sehbehindertenverein in Hamburg eine Einladung ins Cinemaxx bekommt, um Harry Potter mit Audiodeskription (Bildbeschreibung für blinde Zuschauer) zu sehen (Anmerkungung zur Klarstellung: Der BSVH ist nicht der Veranstalter, sondern hat nur die Mail verschickt – siehe Kommentare). Ich könnte ihn nicht begleiten, denn die Vorführung findet in einem nicht barrierefreien Kinosaal statt, wie man der Ankündigung ebenfalls entnehmen kann („nicht für Rollis geeignet“).

Wie kann man eigentlich so ignorant sein? Es gibt auch blinde und sehbehinderte Menschen, die zusätzlich eine Gehbehinderung haben oder im Rollstuhl sitzen. Ich erwarte von jedem Veranstalter, dass er auf Barrierefreiheit achtet – bei Veranstaltungen, die sich an behinderte Menschen richten, sowieso. Wie muss man eigentlich ticken, wenn man eine Veranstaltung nur für blinde Menschen macht und Menschen mit anderen Behinderungen ausschließt?

Theaterferien

Anruf beim Thalia Theater in Hamburg.
Ich: „Guten Tag. Können Sie mir sagen, ob das Nachtasyl (Lokal im Theater) barrierefrei ist?“
Schweigen am anderen Ende.
Ich: „Ich würde gerne wissen, ob man mit dem Rollstuhl in das Nachtasyl kommt.“
Thalia Theater: „Wir haben Theaterferien.“
Ich: „Das war nicht meine Frage. Ich möchte gerne wissen, ob man grundsätzlich mit dem Rollstuhl in das Nachtasyl kommt.“
Thalia Theater: „Wenn Sie starke Leute mitbringen.“

Öfter mal was Neues

Nicht, dass Ihr denkt, ich habe die Lust verloren, über defekte Busrampen zu schreiben. Ich muss aber zur Ehrenrettung von Transport for London sagen, dass sich die Zahl der defekten Rampen stark reduziert hat in den letzten Wochen. Auf meiner Linie (Zufälle gibts!) wurden sogar die alten Rampen ersetzt.

Am Samstag (auf dem Weg zur Tour de France) ist mir aber mal was Neues passiert. Alle Busse in London sind dagegen gesichert, dass der Fahrer vergisst, die Rampe wieder einzufahren. Das Gas ist dann blockiert. Alle Busse? Nein, nicht alle Busse. Nicht der Bus der Linie 283, mit dem ich in die Innenstadt fahren wollte.

Bus mit defekter Rampe

Als der Bus mit viel Lärm am nächsten Bordstein hängen blieb, merkte auch der Fahrer, dass er vergessen hatte, die Rampe wieder einzufahren. Die Rampe war aus der Verankerung gerissen. Sie ließ sich natürlich auch nicht mehr einfahren und so musste der arme Fahrer seiner Zentrale beichten, dass er gerade richtig Mist gebaut hat. Es stand Gott sei Dank niemand sonst an der Haltestelle, dem man die Beine hätte wegsäbeln können. Eigentlich ist das ja ziemlich gefährlich mit so ner Rampe an der Seite durch die Gegend zu fahren.

Happy End DLA

Nach dem Besuch des Amtsarztes habe ich gestern den Bescheid bekommen. Ich bekomme Disablity Living Allowance. Ich muss sagen, das gefällt mir alles sehr gut hier, was die Regelungen für behinderte Menschen angeht. Nur dass sie für die Bewilligung mehr als fünf Monate brauchen, verstehe ich nicht. Aber nun gut.

Mit dem Bescheid bekam ich Informationen, was ich mit meinem neuen Status (ungefähr vergleichbar mit dem Schwerbehindertenstatus in Deutschland) weiterhin beantragen kann. Einen Parkausweis zum Beispiel oder ein Persönliches Budget, falls ich Assistenz benötige. Und das alles in einer wirklich einfachen Sprache. Zudem steht in dem Brief, wenn ich den Bescheid aus sprachlichen oder behinderungsbedingten Gründen nicht verstehe, solle ich eine Nummer anrufen, sie würden mir einen Dolmetscher zur Verfügung stellen und Assistenz. Wenn ich gegen den Bescheid Widerspruch einlegen möchte, kann ich mir beim nächsten Jobcentre ein Widerspruchspaket besorgen mit Informationen und einem Standardformular. Ich könne mich auch juristisch beraten lassen. Ich muss sagen, das finde ich alles ziemlich beeindruckend, wie bürgerfreundlich man so etwas gestalten kann.

Das ist kein Vergleich zu dem Prozedere in Deutschland. Das deutsche Formular (Beispiel Bayern, die anderen sehen ähnlich aus) ist schon für viele Menschen nicht zu verstehen. Oder wer hier weiß, welchen Grad der Behinderung er beantragen würde, wenn er, sagen wir, von der Leiter gefallen ist und nun dauerhaft gehbehindert bleibt? Und welches Merkzeichen hätten wir denn gerne? Das ist ein Formular, das aus Sicht der Behörde erstellt wurde, nicht aus Sicht der Bürger. Für das Merkzeichen aG muss man bestimmte Voraussetzungen erfüllen, was die Gehfähigkeit angeht. Warum fragen sie nicht einfach: Wieviele Meter können Sie ohne Hilfe gehen? Wie lange brauchen Sie, um 10 Meter zu gehen? Genau das waren die Fragen, die mir die britische Behörde gestellt hat. Sie hätten natürlich auch fragen können „Beantragen Sie den höchsten oder einen geringeren Satz?“. Higher rate bekommen nämlich nur Leute, die gar nicht gehen können oder nur sehr schlecht. Da gibt es bestimmte Grenzen. Aber muss ich die wirklich kennen?

Ich gehe jetzt mal meinen Parkausweis beantragen. Eines weiß ich aber jetzt schon: Die Regelungen für behinderte Autofahrer sind in Deutschland besser. Die innerstädtischen Distrikte von London haben sich nämlich der EU-weiten Regelung nicht angeschlossen, sondern lassen nur ihre eigenen Bürger profitieren. Das finde ich total bescheuert und ärgert mein europäisches Selbstverständnis. Das als Londonerin sowieso. Oder kann mir bitte mal einer erklären, warum ich in der Ladezone um die Oxford Street zwar parken darf, wenn ich in Camden wohne, aber nicht, wenn ich aus Ealing (mein Stadtteil) komme? Ich glaube, das gibt es sonst nirgendwo in der EU. Hier gibt es neben dem blauen europaweit gültigen Ausweis auch einen grünen, roten und weißen. Das ist für mich bislang die schwachsinnigste Regelung, die ich hier entdeckt habe. Auf Behindertenparkplätzen darf man aber überall parken – es gibt allerdings auch Behindertenparkplätze nur für Einheimische.

Was das Leben so zu bieten hat

Es gab selten einen Tag, an dem ich lieber zur Arbeit gegangen bin. Ich war so gespannt, was mich bei BBC erwarten wird, nachdem bekannt wurde, dass unser Kollege Alan Johnston aus der Geiselhaft befreit wurde. Ich hatte schon vergangene Nacht gewusst, dass er frei ist. Ich kam relativ spät nach Hause und hatte irgendwie keine Lust, ins Bett zu gehen. Um 2 Uhr siegte die Vernunft und ich legte mich ins Bett und schaltete noch einmal BBC News24 an. Und eine Minute später gab es „Breaking News“. Ich habe den Fernseher bis kurz vor dem Aufstehen nicht mehr ausgemacht.

Es gab keinen Tag seit Alans Entführung, an dem er nicht Thema war. Jeden Montag haben sich die BBC-Mitarbeiter versammelt, um an ihn zu denken. Die Nachrichtenprogramme wurden dann unterbrochen. Wir standen bei Wind und Wetter vor der Tür mit Bildern von Alan.

Als ich noch bei World Service (Radio) war, habe ich an Programmen für und über Alan Johnston gearbeitet. So haben wir eine Sondersendung produziert, in der ehemalige Geiseln aus der ganzen Welt zu Wort kamen. Ich werde die Sendung niemals vergessen.

Wir hatten immer die Hoffnung, dass er das hören kann und dass es ihm irgendwie hilft. Ich gebe zu, wirklich daran geglaubt habe ich nicht. Um so mehr hat mich umgehauen, dass er im ersten Interview sofort sagte, er habe ein Radio gehabt und konnte World Service hören. Das hätte ihm sehr geholfen. Ich bin noch immer zu tiefst beeindruckt, dass ich die Möglichkeit hatte, an solch einem Programm mitzuarbeiten. Man macht ja als Journalist leider sehr selten die Erfahrung, wirklich etwas zu verändern. Das meiste versendet sich oder landet am Tag danach als Packmaterial beim Fischhändler. Aber das Gefühl zu haben, dass es etwas ausmacht, was man den ganzen Tag macht, ist ungemein erfüllend.

Heute nachmittag gab es eine weitere Demonstration zur Feier der Freilassung vor dem Fernsehzentrum der BBC. Als ich aus dem Gebäude kam, wusste ich, hier wird gerade britische Fernsehgeschichte geschrieben. Ü-Wagen aller Sender überall, Kameras von CNN bis Al Jazeera standen dort. Es gab eine Zeremonie, in der die riesigen Plakate am Gebäude, die zur Freilassung Alans aufriefen, abgehängt wurden und in einer sehr beeindruckenden Liveschaltung nach Israel konnte Alan Johnston zu uns vor dem Television Centre sprechen.

BBC Demo

Ich bin sehr froh, dass Alan frei ist und ich die Erfahrung machen durfte, wie eine riesige Organisation wie BBC derart zusammen steht und dass man doch irgendwie etwas bewegen kann. Allein diese Erfahrung war es wert, nach England zu gehen.

Leute mit Plakaten